dies ist die datei "juden" angefangen 16. September 2000 Jüdische Familien in Rhauderfehn Ausdruck: Erläuterungen In dieser Schrift wird der Versuch unternommen, den Spuren von fünf ehemals in Rhauderfehn lebenden jüdischen Familien zu folgen. Um aus den einzelnen Erinnerungen, Dokumenten, Daten, Fotos und steinernen Zeugnissen ein erkennbares Mosaik zusammenfügen zu können, ist es notwendig, einige Fakten und Ereignisse unter Einbeziehung lokaler und historischer Gegebenheiten behutsam zu interpretieren. Auf reine Spekulationen ist dabei jedoch verzichtet worden. Im ersten Teil wird über die Familien BOURTANGER, WEINBERG, COHEN, DE LEVIE und GUMPERTZ ausführlich berichtet, im zweiten Teil gibt es zu jeder Familie eine genealogische Übersicht mit Daten und kurzen Texten. Die zurate gezogenen Quellen sind am Ende des ersten Teils und jeweils im Anschluß an die einzelnen Familienübersichten angegeben. Zeichenerklärungen und Abkürzungen * geboren 3/4 beschnitten ¸ getauft oo verheiratet + gestorben # begraben llk levenloos kind / totgeborenes Kind Allgemeines Eigentlich ist es noch gar nicht so lange her, dass sich die ersten jüdischen Familien in Rhauderfehn niederließen. Laut einer Mitgliederzählung in allen Synagogengemeinden des Landdrosteibezirks Aurich im Jahre 1871 - anlässlich des neuen Landesarmengesetzes - gab es am 14. 4. 1871 im Amt Stickhausen vierzehn Juden; davon wohnten vier in Westrhauderfehn. Leider lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob es sich um eine Familie handelte, oder ob es einzelne Personen waren, die sich hier damals für wenige Jahre niederließen. Wir wissen weder, woher sie kamen, noch wohin sie verzogen. Wir kennen nicht einmal ihre Namen, denn Meldeverzeichnisse aus dieser Zeit sind nicht vorhanden, und auch in den Standesamtsregistern, die es seit 1874 gibt, findet sich kein Eintrag. Die ersten uns namentlich bekannten jüdischen Familien kamen aus Oude Pekela im benachbarten Holland, etwa um 1880, die Familie Bourtanger/ van Pels, die Familie de Levie und die Familie Cohen. Das Untenende, die Rhauderwieke und die unteren Bereiche des Rajen und der 1. Südwieke waren zu jener Zeit gerade dabei, sich von einer gewöhnlichen, ärmlichen Fehnsiedlung mit Moorkolonisten, Muttschiffern und Torfgräbern zu einem Zentrum mit gehobenen Ansprüchen zu entwickeln, denn etliche Schiffseigner und Handwerker hatten es zu solidem Wohlstand gebracht, und kapitalkräftige Kaufleute von auswärts sahen, dass es sich lohnte, hier zu investieren und Geschäfte zu eröffnen. Auch für jüdische Viehhändler mit ihren weitverzweigten geschäftlichen Verbindungen war ein Auskommen durchaus vorhanden, denn viele Fehnkolonate waren schon so weit kultiviert, dass sich ein oder zwei Kühe darauf halten ließen, und auch Kleinvieh wie Schafe, Ziegen und Geflügel gab es reichlich. Da viele Männer beruflich auf See abwesend waren, oblag die Bewirtschaftung der Landstellen gewöhnlich den Frauen, die oft froh waren, wenn ihnen die Modalitäten beim An- und Verkauf vor allem der Jungtiere abgenommen wurden. So gehörten die jüdischen Händler bald zum alltäglichen Leben auf dem Fehn und in den umliegenden Bauerndörfern wie Holte, Rhaude, Collinghorst, Langholt und Burlage. Die Familie Bourtanger/ van Pels zog zwar bald wieder nach Holland zurück, dafür kam aber im Jahre 1910 die Familie Weinberg dazu und nach dem I. Weltkrieg noch die Familie Gumpertz aus dem Rheinland. Sie war mit den de Levies verwandt und eröffnete in deren Haus an der Rhauderwieke einen Fell- und Lederwarengroßhandel. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren hatte die allseitige gedeihliche Zusammenarbeit urplötzlich ein Ende. Die Juden wurden von den neuen Machthabern für alle Unbill der Welt verantwortlich gemacht und mehr und mehr entrechtet. Auch den hiesigen jüdischen Familien wurde nach und nach die bürgerliche und wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen, so dass sie gezwungen waren, ihren Heimatort, das Fehn, zu verlassen in Erwartung einer ungewissen Zukunft. Diese hatte für die meisten von ihnen den gewaltsamen Tod in einem der zahlreichen Konzentrations- und Vernichtungslager vorgesehen. BOURTANGER / VAN PELS "Am 10. November 1879 erschien der Handelsmann Moses Bourtanger, der Persönlichkeit nach bekannt, wohnhaft zu Rhaudermoor, und zeigte den Tod des Salli Moses Cohn an, wohnhaft zu Rhaudermoor." So ähnlich schreibt es der Standesbeamte von Rhaudermoor, J. Dänekas, in sein Sterberegister (Nr. 21 / 1879). Mozes Arons Bourtanger (* 6. 1. 1795 zu Oude Pekela) war einer der ersten, wenn nicht der allererste jüdische Einwohner von Rhaudermoor. Er war Witwer und schon ein alter Mann von 83 Jahren, als er 1878 von Oude Pekela nach "Preußen" aufbrach. Sein Vater, Arend Mozes, stammte aus Bourtange (auch bisweilen "Boertange" geschrieben), deshalb bekam die Familie den Namen Bourtanger, als Arend in Oude Pekela Jutje Izaks heiratete und sich dort niederließ. Mozes Arons war das mittlere von drei Kindern und heiratete Hendeltje Israels Mindus (* ca. 1798 zu Jemgum, + 17. 2. 1870 zu Oude Pekela, # zu Oude Pekela, Grab Nr. 129). Dieser Mozes Bourtanger wollte sich gewiss in Rhaudermoor keine neue Existenz aufbauen in seinem Alter, doch er hatte seine Tochter Jetta dabei (* 8. 10. 1831 zu Oude Pekela). Sie hatte am 30. 1. 1864 in Oude Pekela den Kaufmann David van Pels geheiratet (* 16. 5. 1825 zu Oude Pekela). Die beiden hatten drei Kinder: Jozef (* 17. 8. 1865 zu Oude Pekela), Mozes (* 26. 1. 1867 zu Oude Pekela) und Aäron David (* 13. 3. 1869 zu Oude Pekela). Diese gesamte Familie wanderte ebenfalls 1878 nach "Preußen" aus und wohnte höchstwahrscheinlich auch in Rhaudermoor. Da sie nichts auf dem Standesamt zu tun hatte, wurde die Familie nicht "aktenkundig" und hat deshalb in Rhaudermoor auch keine "amtlichen" Spuren hinterlassen, denn ein Einwohnermelderegister aus dieser Zeit gibt es in Rhaudermoor nicht. Was wollte diese Familie in Rhaudermoor ? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im Raum Oude und Nieuwe Pekela für zusätzliche Viehhändler und Schlachter keine Perspektive mehr. Viele versuchten, sich im benachbarten Ostfriesland anzusiedeln, wo die Juden seit Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 de jure nicht mehr benachteiligt waren. Die Familie van Pels stammte ursprünglich auch nicht aus Oude Pekela, denn Davids Vater kam aus Groningen und seine Großeltern mütterlicherseits stammten aus Frankfurt/ Main und aus Leer. Die Bourtangers waren ja auch erst seit einer Generation in Oude Pekela sesshaft gewesen, und Mozes' verstorbene Frau Hendeltje war eine geborene Mindus aus Jemgum. Diese Familie war es also gewohnt, umzuziehen und etwas Neues anzufangen. Sowohl von David van Pels' als auch von Jettas Geschwistern ist niemand in Oude Pekela wohnen geblieben. Also machten sich auch David van Pels und Frau Jetta mit ihren Kindern und dem Vater Mozes Bourtanger auf ins Nachbarland, d.h. nach Rhaudermoor. Wahrscheinlich hatten Verwandte aus der Familie Mindus, die in Weener und Papenburg wohnten, sie auf das aufstrebende "Fehn" aufmerksam gemacht, wo sich noch keine Juden niedergelassen hatten und wo eine große Bevölkerungsfluktuation zu beobachten war, so dass es keine gravierenden Integrationsprobleme geben würde. Über die Mindus-Verwandtschaft kam wahrscheinlich auch die Bekanntschaft mit dem Witwer Salli Moses Cohn aus Jemgum zustande. Er war mit Clara Stahl verheiratet gewesen, deren Schwestern wiederum mit den Mindus' verwandt waren. Vielleicht hatte der 54jährige Witwer Salli auch vorgehabt, noch einmal einen Neuanfang in Rhaudermoor zu wagen. In welchem Haus sie in Rhaudermoor gewohnt haben, ist nicht mehr festzustellen. Dazu möchte ich noch anmerken, dass Mozes Arons Bourtanger nicht nur Handelsmann war, sondern in Oude Pekela auch als "leerloier", also Lohgerber, geführt wurde. Mein Großvater Johann Hensmanns (* 5. 10. 1872) erzählte öfter, dass es in der Jürgenaswieke einen jüdischen Lohgerber gegeben habe, der die Schuljungen aufforderte, ihm gegen Entgelt Hundekot zu bringen, den er zum Gerben gebrauchen könne. Außerdem wusste mein Großvater zu berichten, dass dieser die gegerbten Felle zum Wässern in die Wieke legte. Vielleicht ist dies ein Hinweis darauf, dass die Familie Bourtanger/van Pels in der Jürgenaswieke wohnte. Anscheinend haben sich die Erwartungen an die neue Wirkungsstätte nicht erfüllt. Vielleicht hat auch der Tod des Salli Moses Cohn den Ausschlag gegeben. 1880 ist jedenfalls die gesamte Familie nach Oude Pekela zurückgekehrt. Mozes Arons Bourtanger verstarb dort am 23. 9. 1883 und wurde in Oude Pekela begraben (Grab Nr. 153). David van Pels starb am 5. 5. 1902 zu Oude Pekela und wurde ebenfalls dort beerdigt (Grab Nr. 70). Jozef van Pels wurde Kaufmann und zog nach Kampen. Mozes van Pels wurde auch Kaufmann und wohnte 1888 in Norden/Ostfriesland. Aäron David van Pels wurde Doktor der Rechte und wohnte ab 1888 in Winschoten. Wo Frau Jetta van Pels geb. Bourtanger ihren Lebensabend verbracht hat, ist nicht zu erfahren. WEINBERG / GRÜNBERG Die Westrhauderfehner Weinbergs stammen aus dem Raum zwischen Wiehengebirge, Dümmer und Osnabrück. Die übrigen Weinberg-Familien im hiesigen Raum sind mit ihnen nicht näher verwandt. Schon bei der Erfassung der jüdischen Familien des Landdrosteibezirks Osnabrück im Jahre 1844 gab es in der Synagogengemeinde Buer einen Baruch Zacharias Weinberg, der einem Haushalt mit drei männlichen und fünf weiblichen Personen vorstand. Ein Mitglied dieser Familie war offenbar der Schlachter David Weinberg. Er wohnte zeitlebens in diesem kleinen jüdischen Zentrum am Wiehengebirge. Er war zweimal verheiratet. Seine erste Ehefrau Johanna geborene Goldstein stammte aus Lage in Lippe/Detmold. Das Ehepaar hatte sieben Kinder, von denen die beiden ältesten als Kleinkinder kurz nacheinander starben: Jakob David, Carl Kalmann, Joseph, Salman/Sally, Esther/Emma und Isaak. Nach dem Tod von Frau Johanna verheiratete sich David Weinberg am 11. 8. 1875 in Buer mit Julie Silbermann, die aus Lemförde am Dümmer stammte. Aus dieser zweiten Ehe gingen sieben Kinder hervor: Levie, Minna, Baruch/Bernhard, Israel/Isidor/Julius, Heinemann/Hermann, Alfred und Jakob. Nach dem Ausbau der Eisenbahnlinie Rheine - Norddeich in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts sahen sich zahlreiche Juden aus dem Raum Münster-Osnabrück im nördlichen Emsland und in Ostfriesland um, und einige fassten hier Fuß. So auch die Weinbergs. Tochter Emma heiratete den Schlachter und Viehkaufmann Levie Löwenstein aus Weener, Westerstraße 30. Familie Bernhard Weinberg Anlässlich der Besuche bei ihrer Schwester in Weener müssen die jüngeren Weinberg-Brüder Bernhard und Alfred dort die Familie Grünberg aus der Neuen Straße 49 kennengelernt haben. Der Produktenhändler Abraham Hartog Grünberg hatte vorher mit seiner Frau Frauke geb. Cohen und den zehn gemeinsamen Kindern in Jemgum gewohnt, betrieb aber nun mit seinen erwachsenen Söhnen einen Fell-, Schrott- und Viehhandel in der Neuen Straße 47 in Weener (später: Kommerzienrat-Hesse-Straße). Bernhard Weinberg heiratete am 28. Oktober 1906 in Weener die Grünberg-Tochter Rahel. Trauzeugen waren sein Schwiegervater Abraham H. Grünberg und sein Schwager Levie Löwenstein. Das junge Ehepaar wohnte laut Meldeliste zunächst über zwei Jahre in Buer. Dort wurde am 4. 3. 1907 auch die einzige Tochter Caroline Lilly geboren. Doch der Seniorchef der Firma "A. Grünberg Söhne" in Weener legte Wert darauf, dass seine Kinder sich möglichst in seiner näheren Umgebung niederließen, damit sie auch weiterhin geschäftlich zusammenarbeiten konnten. Da abzusehen war, dass Frau Rahels drei jüngere Schwestern Maria, Caroline und Flora, sowie die fünf Brüder Hermann, Aron, Philipp, Max und Wilhelm auch bald eigene Familien gründen würden, sah sich Schwiegervater Abraham Grünberg nach Möglichkeiten um, sein Geschäft zu erweitern. Als neuen Standort guckte er sich Westrhauderfehn aus. Dort war ein Eisenbahnanschluss (Kleinbahn mit Normalspur) in der konkreten Planung, und in dem aufstrebenden Ort gab es noch keinen jüdischen Händler für Alteisen und Felle, sondern nur die Viehhändler und Schlachter de Levie und Cohen. Es lohnte sich also, dort zu investieren. Der Schmiedemeister Johann Dirk Brunsema verkaufte ihm einen Bauplatz mit einem Stück Land in einer hervorragenden Lage am Untenende und Abraham Hartog Grünberg ließ darauf im Jahre 1909/10 ein modernes geräumiges Haus bauen, im Fehntjer Stil mit einem großen Hinterhaus. Dorthin zogen Bernhard Weinberg und Frau Rahel mit Tochter Lilly und Philipp Grünberg, der wie sein Schwager Bernhard Weinberg zusätzlich zum Fell- und Schrotthandel noch als Viehkaufmann tätig war. Im Jahre 1915, mitten im ersten Weltkrieg, bot Bernhard Weinberg zum Beispiel mittels einer halbseitigen Anzeige im Anzeiger für das Overledingerland einen ganzen Transport ostpreußischer Pferde zum Verkauf an, bar und auf Zahlungsfrist. Pferde waren damals gesucht, denn sie wurden im Krieg massig verschlissen. Die Familie war bald gut etabliert. Bernhard Weinberg engagierte sich bei dem Männer-Turnverein Westrhauderfehn e.V. und kaufte im Jahre 1913 einen der Anteilscheine, die zum Aufbau eines Fonds zur Errichtung einer Turnhalle vergeben wurden. Frau Rahel beschäftigte ein Dienstmädchen wie damals in Geschäftshaushalten üblich, und Tochter Lilly hielt sich gerne bei den Nachbarn Brunsema auf, die eine Schmiede hatten, und deren halbflügge Töchter bei den Weinbergs die Rolle der "Sabbat-Gojim" übernahmen, d.h. sie verrichteten alle notwendigen Arbeiten wie Feuer machen, Licht ein- und ausschalten und Essen aufwärmen, die Weinbergs selbst am Sabbat nicht erledigen durften. Im Jahre 1917 kam Bernhard Weinbergs Mutter Julie, die schon seit vielen Jahren verwitwet war, für ein halbes Jahr von Buer nach Westrhauderfehn, zu welchem Anlass sie sich ordnungsgemäß beim Einwohnermeldeamt an- und abmeldete, denn so war es damals vorgeschrieben und während des I. Weltkrieges auch notwendig, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Irgendwann in der Zeit von 1914 bis 1918 musste Bernhard Weinberg auch als Soldat in den Krieg ziehen. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, das ihn in Uniform zeigt. Zum Glück kehrte er unversehrt zurück. Ein Jahr nach dem Ende des Krieges, am 29. 11. 1919, starb Schwiegervater Abraham Hartog Grünberg in Weener. Die Firma "A. Grünberg Söhne" wurde neu organisiert und in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt, wie aus einer Grundbucheintragung von 1924 zu ersehen ist. Aron Grünberg wohnte mit seiner Familie in Weener, Am Hafen 9. Hermann Grünberg zog nach seiner Heirat mit Martha Schönthal aus Norden in die Feldstraße 8 (heute: Risiusstraße). Philipp Grünberg verheiratete sich mit Angelica Schaap aus Lathen und ließ sich in Leer in der Gartenstraße (später: Reimerstraße) nieder und eröffnete am 18.1. 1921 eine Viehhandlung. Wilhelm Grünberg, der 1920 für ein paar Wochen in Westrhauderfehn wohnte, zog nach Ihrhove, wo er sich gut ein Jahr aufhielt. Am 1. 3. 1922 meldete er sich in Leer an und heiratete im November des gleichen Jahres Henny Schaap aus Lathen. Das Paar übernahm das Haus in der Bremer Straße 14a von Willy Cohen, der mit Maria Grünberg verheiratet war. Leer war damals für Viehhändler sehr attraktiv, denn dort entwickelte sich zu jener Zeit der größte wöchentliche Viehmarkt in ganz Deutschland. Wenn man auf diesem Berufsfeld erfolgreich sein wollte, war es vorteilhaft, dort auch zu wohnen. Bei der Witwe Frauke Grünberg geborene Cohen in der Neuen Straße 49 in Weener verblieb bald nur noch der ledige Sohn Max, denn Flora Grünberg, Rahels jüngere Schwester, heiratete am 11. Januar 1920 in Weener Bernhard Weinbergs Bruder Alfred, der aus dem Krieg zurückgekehrt war und schon im November 1919 von Buer nach Westrhauderfehn zog, um dort die reibungslose Übergabe des Geschäfts abzuwickeln, das er mit Frau Flora übernehmen wollte. Dafür zog Bernhard Weinberg mit Frau Rahel und Tochter Lilly 1920 dann von Westrhauderfehn nach Weener in die Neue Straße 51 neben das schwiegerelterliche Haus. Das Geschäft in der Neuen Straße 47, Telefon-Nr. 211, wurde noch um einen Textilhandel erweitert. Die Grünbergs und Weinbergs in Weener waren angesehene Leute. Im Visitationsbericht des Landesrabbiners von Emden an die Regierung in Aurich vom 9. 7. 1927 steht zu lesen, dass sowohl Bernhard Weinberg als auch sein Schwager Aron Grünberg Mitglieder des Repräsentantenkollegiums der Synagogengemeinde Weener waren. Gegen Ende der zwanziger Jahre hielten es die Grünberg-Söhne für vorteilhafter, die Firma zu splitten und mit dem erworbenen Anteil in Zukunft eigenverantwortlich Geschäfte zu tätigen. Die Firma "A.Grünberg Söhne" wurde 1929 aufgelöst. Philipp Grünberg kaufte in Leer das Haus Reimerstraße 6 neben der Bahn. Wilhelm Grünberg eröffnete am 1. 4. 1927 ein eigenes Viehhandelsgeschäft in seinem Haus in der Bremer Straße 14a. Hermann Grünberg erhielt das Anwesen in Westrhauderfehn am Untenende überschrieben, wo seine Schwester Flora und sein Schwager Alfred Weinberg ihr Geschäft betrieben. Er selbst siedelte mit seiner Familie nach Leer über, in die Bremer Straße 13, und eröffnete dort am 15. 1. 1933 einen Viehhandel. Aron Grünberg zog mit seiner Familie auch von Weener weg. Max Grünberg und Bernhard Weinberg blieben im Stammhaus in Weener, handelten aber offensichtlich jeweils auf eigene Rechnung, denn am 11. Oktober 1927 wurde zwischen Bernhard Weinberg und seiner Ehefrau Rahel eine notarielle Gütertrennung vereinbart. Mit Beginn der NS-Zeit 1933 war es mit der heilen Welt bald vorbei. Die Geschäfte gingen nach und nach immer schlechter. Im Jahre 1935 wurde der Betrieb in Weener in der Kommerzienrat-Hesse-Straße in einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung noch als jüdisches Geschäft aufgeführt, und sowohl Max Grünberg als auch Bernhard Weinberg wurden als jüdische Viehhändler bezeichnet, was den Schluss zulässt, dass sie um diese Zeit hauptsächlich Viehhandel betrieben. Tochter Lilly muss als junge Frau eine Zeit lang in Frankfurt gewohnt haben, denn dort wurde am 5. 10. 1935 ihre Tochter Annemarie Rosel geboren. Während der folgenden Jahre kehrte sie jedoch nach Weener in ihr Elternhaus zurück. Nun wohnten im Hause Weinberg/Grünberg in der Kommerzienrat-Hesse-Straße Urahne, Großmutter, Mutter und Kind unter einem Dach vereint. Doch die Idylle trog. Am 3. 2. 1937 verstarb Schwiegermutter Frauke Grünberg geborene Cohen in Weener. Das neue Gesetz der NS-Regierung vom 6. Juli 1938 zur Änderung der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich entzog vielen jüdischen Firmen die Betriebserlaubnis. Für die Viehhändler bedeutete das Einziehen der Wandergewerbescheine und Legitimationskarten eine schwerwiegende Behinderung in ihrer Berufsausübung. Sie durften nur noch in ihrem Wohnort, dem Ort ihrer Zulassung, mit Vieh handeln. Die Firma von Max Grünberg und Bernhard Weinberg in Weener konnte von nun an kein Stück Vieh mehr von den Bauern kaufen, denn die wohnten ja in den umliegenden Dörfern und nicht in der Stadt. Außerdem durften sie den Viehmarkt in Leer jetzt nicht mehr beliefern. Die Firma musste aufgegeben werden, und das Haus wurde "arisiert". Max Grünberg zog Anfang November 1938 nach Bremen in die Isarstraße 33 zu seiner ältesten Schwester Rosa, deren Ehemann, der Produktenhändler Adolf Grünberg, schon im Dezember 1933 verstorben war. Die Familie Weinberg blieb zunächst noch in Weener und wohnte Am Hafen 26. Bernhard Weinberg betrieb heimlich einen Hausierhandel mit Kurzwaren und Kleintextilien, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern. Er suchte Bekannte auf und verkaufte ihnen ab und zu einige Kleinigkeiten, unter anderem bot er auch seiner früheren Nachbarin aus Westrhauderfehn, Grete Janssen geborene Brunsema, seine Waren an. Im Zuge des Judenpogroms am 9./10. 1938 wurde Bernhard Weinberg mit anderen jüdischen Männern mittels Lastwagen nach Leer in den neuen Viehhof gebracht und von dort mit einem Güterzug ins KZ Sachsenhausen deportiert. Wann genau er zu seiner Familie zurückkehren konnte, ist nicht überliefert. Als 1940 alle Juden auf Anordnung der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven Ostfriesland verlassen mussten, zog Bernhard Weinberg mit Frau Rahel und Tochter Lilly sowie Enkelin Rosel ebenfalls nach Bremen, denn außer Frau Rahels Bruder Max und ihrer Schwester Rosa mit Familie wohnten dort noch weitere entfernte Verwandte aus der weitverzweigten Grünberg-Familie. Familie Weinberg fand eine bescheidene Unterkunft in Bremen-Blumenthal in der Wilhelmstraße 9 (heute: Cord-Steding-Straße 9). Laut Auskunft von Wiltrud Ahlers aus Blumenthal gehörte das Haus Familie Spingelt. Dieses Ehepaar lebte in einer "Mischehe", wie es damals hieß. Moritz Spingelt (* 23. 12. 1862 Marmorfüss) war "Arier" und seine Frau Rosalie geborene Herz (* 10.5. 1862 Grohn) war Jüdin. Da die Eheleute sich nicht scheiden lassen wollten, mussten Moritz Spingelt und seine Söhne an verschiedenen Orten Zwangsarbeit leisten, unter anderem auch beim Bunkerbau in Bremen-Farge. Unglücklicherweise befanden sich im Nachbarhaus der Spingelts die Blumenthaler Zentrale der NSDAP und der Treffpunkt der Hitlerjugend (HJ). Es scheint in der Wilhelmstraße jedoch auch Familien gegeben zu haben, die gegenüber den Juden keine Berührungsängste hatten. Eine Nachbarin erinnert sich, dass sie als Kind mit Rosel Weinberg gespielt hat. Diese hatte ein Puppenbett, das ihr Großvater Bernhard Weinberg aus alten Bettfedern (Spiralfedern?) zusammengebaut hatte. Die Spielkameradin hätte selbst auch gerne so eins gehabt und war froh, dass sie es ab und zu im Tausch gegen ein anderes Spielzeug für eine Weile ausleihen durfte. Als Rosel eines Tages plötzlich weg war, wollte ihr niemand sagen, wohin sie gegangen war. Wie die Weinbergs in Bremen ihren Lebensunterhalt verdient haben, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es ist gut möglich, dass Bernhard Weinberg und auch Tochter Lilly zu einer Arbeit abkommandiert wurden. Es wurde für die Juden ohnehin Tag für Tag mühseliger, das Leben zu meistern, da sie seit Ende des Jahres 1938 durch immer neue Verordnungen mehr und mehr von der Normalität des Alltags ausgeschlossen wurden. Das Tragen des gelben Sterns in der Öffentlichkeit ab dem 15. September 1941 bedeutete eine weitere Ausgrenzung und Stigmatisierung. Am 24. Oktober 1941 ordnete der Chef der Ordnungspolizei im Reichssicherheitshauptamt, Daluege, in einem Schnellbrief an, dass "vom 1. November bis zum 4. Dezember 1941 ... aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50 000 Juden nach dem Osten in die Gegend um Riga und Minsk abgeschoben" werden sollten, und zwar in Transportzügen zu je 1000 Personen; als Ausgangsorte wurden u.a. auch Hamburg, Bremen und Düsseldorf genannt. Die 440 Bremer Juden mussten sich am 18. November 1941 zwischen sechs und sieben Uhr morgens an vorgegebenen Stellen sammeln und wurden dann von Uniformierten zum Lloydbahnhof gebracht. Sie durften pro Person nur einen Koffer mit 50 kg Bekleidung, Bettwäsche oder Schuhe und für vier Tage Proviant mitnehmen. Die Wohnung musste in einem ordnungsgemäßen Zustand hinterlassen und der Schlüssel bei der Polizei abgeliefert werden. Während sie auf den Transportzug aus Hamburg warteten, mussten sie eine Erklärung unterschreiben, dass sie Feinde der Deutschen Regierung und deshalb ab November 1941 staatenlos seien und somit kein Anrecht mehr auf ihr zurückgelassenes Eigentum hätten. Unter diesen Bremer Juden am Lloydbahnhof befanden sich laut den Transportlisten der Jüdischen Kultusgemeinde Bremen auch die Mitglieder der Familie Weinberg aus der Wilhelmstraße 9 in Blumenthal: Herr Baruch, Frau Rahel, Tochter Caroline Lilly und Enkelkind Annemarie. Max Grünberg war zu dieser Zeit schon nicht mehr am Leben. Auf ihren Abtransport am Lloydbahnhof warteten ebenfalls Hugo Grünberg und seine Frau Klara geborene Israel, Sohn und Schwiegertochter der ältesten Grünberg-Schwester Rosa. Diese selbst und ihre Tochter Marianne sowie ihr Schwiegersohn Carl Katz und ihre Enkeltochter Ingeborg Berger konnten noch vorläufig in Bremen-Blumenthal in der Parkstraße 1 bleiben. Sie wurden am 23.7. 1942 nach Theresienstadt deportiert. Am Abend vor dem Abtransport klopfte Rahel Weinberg im Schutze der Dunkelheit bei einem Nachbarn in der Wilhelmstraße ans Fenster und bat um etwas Warmes zum Anziehen, denn Kleiderkarten für den Kauf von Textilien gab es für Juden nicht. Sie erhielt zwei warme Strickjacken. Kurze Zeit später kam sie noch einmal zurück und überreichte sechs silberne Teelöffel mit Monogramm als Dank. Fünf Teelöffel sind noch heute im Besitz der Familie, einer wurde während des Krieges zu einem Armband umgearbeitet. Das erfuhr Wiltrud Ahlers von einer alten Nachbarin aus der heutigen Cord-Steding-Straße. Das Transportziel Minsk war den wartenden Juden am Lloydbahnhof nur gerüchteweise bekannt. Sie rechneten damit, irgendwo in den besetzten russischen Gebieten in einem Arbeitslager angesiedelt zu werden. Nathan Felczer, dessen Tochter in Bremen bleiben konnte, weil sie in einer "Mischehe" verheiratet war, hatte frankierte Postkarten mitgenommen, von denen drei sogar ordnungsgemäß in Bremen ankamen, so dass die Reiseroute über Krenz, Warschau und Baronowitschi - etwa 150 km vor Minsk - nachvollzogen werden kann. In Minsk wurde der Transport von der SS mit Peitschen-und Gewehrkolbenhieben sowie wüsten Beschimpfungen empfangen und dann in das mit etwa 100 000 Juden aus der Sowjetunion völlig überfüllte Ghetto getrieben. Kurz bevor die ersten Transporte ankamen, hatte man dort mit Stacheldraht einen Teil abgetrennt und so für die deutschen Juden eine Art Sonderghetto geschaffen. Die hier zuvor wohnenden etwa 7000 Menschen waren in der ersten Novemberwoche einfach erschossen worden. Da viele der Toten noch in den Wohnungen lagen, mussten die Ankömmlinge aus Bremen und Hamburg die erste Nacht und den nächsten Tag draußen verbringen bei 25° Kälte, während einige von ihnen abkommandiert wurden, die Leichen wegzubringen und die Wohnungen zu säubern. Das berichtete Richard Frank, einer der wenigen überlebenden Bremer nach der NS-Zeit. Ebenfalls ins Ghetto Minsk deportiert wurden die Familien von Frau Rahels Brüdern Philipp und Wilhelm Grünberg, die seit der Vertreibung der Juden aus Ostfriesland im Frühjahr 1940 in Essen wohnten. Sie mussten am 10. November 1941 in Düsseldorf den Transportzug besteigen. Ob die Geschwister sich noch vor der Deportation benachrichtigen konnten oder ob sie sich im Ghetto Minsk später getroffen haben, wissen wir nicht. Obwohl den einzelnen Transporten nach Herkunftsorten abgegrenzte Wohngebiete im Sonderghetto zugewiesen wurden, waren diese nicht durch Stacheldraht voneinander getrennt, so dass Kontakte möglich waren. Es war für die Weinbergs und Grünbergs sicherlich tröstlich, in einer so schweren Zeit mit den Verwandten gewissermaßen ein kleines Stückchen Heimat bei sich zu haben. Im Ghetto gab es weder Elektrizität noch Heizmaterial. Und das in dem besonders kalten Winter 1941/42! Wasser konnte nur aus wenigen Brunnen geholt werden und zu essen gab es außer einer dünnen Suppe kaum etwas. Tagsüber wurden die Frauen und Männer im arbeitsfähigen Alter zu schwerer körperlicher Arbeit abkommandiert. Infolge dieser katastrophalen Umstände starben schon viele Menschen während der ersten Wochen. Wer bis zum Frühjahr überlebt hatte, fiel später einer der vielen Liquidierungsaktionen zum Opfer. Die Bewohner ganzer Straßenzüge wurden dann zusammengetrieben und am Rande großer Massengräber erschossen oder in Spezialfahrzeugen vergast, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Insgesamt sind im Ghetto Minsk etwa 135 000 Menschen umgebracht worden. Eine der größten Massenmordaktionen im Ghetto Minsk fand am 28. und 29. Juli 1942 statt. Dabei mussten über 10 000 Menschen ihr Leben lassen, auch viele Bremer Juden. Unter den Opfern war laut Auskunft des Bundesarchivs Koblenz auch Rahel Weinberg geb. Grünberg. Wann genau Ihr Ehemann Bernhard Weinberg, ihre Tochter Lilly und ihre Enkeltochter Rosel umgekommen sind, kann niemand sagen. Fest steht jedenfalls, dass von den 440 Bremer Juden, die am 18. 11. 1941 ins Ghetto Minsk deportiert wurden, nur sechs überlebt haben. Im September 2008 wurden vor dem Haus in der Cord-Steding-Straße 9 in Bremen-Blumenthal zur Erinnerung an die Familie Weinberg vier Stolpersteine gesetzt. Familie Alfred Weinberg Alfred Weinberg war hauptberuflich Viehhändler, kannte sich aber auch damit aus, Tiere koscher zu schlachten. Er war in seinen jungen Jahren im westfälischen Raum viel herumgekommen, denn aus der Meldeliste von Buer ist zu ersehen, dass er zeitweise in Bielefeld, Herford und Schöttmar wohnte und arbeitete. Nachdem er unversehrt aus dem I. Weltkrieg zurückgekehrt war, meldete er sich bald nach Ostfriesland ab, denn in Weener wohnte seine Schwester Emma. Ihre Familie hatte er schon von Kind an ab und zu besucht und dabei sicherlich auch Flora Grünberg kennengelernt, die Schwägerin seines Bruders Bernhard, der mit seiner Familie in Westrhauderfehn wohnte. Am 11. 1. 1920 wurden Alfred Weinberg und Flora Grünberg ein Ehepaar. Da die Firma "A. Grünberg Söhne" nach dem Tod des Seniorchefs gerade neu organisiert wurde, wechselte Bernhard Weinberg mit Familie nach Weener und Alfred und Frau Flora etablierten sich gleich nach ihrer Heirat in Westrhauderfehn. Sie setzten sich sozusagen "ins gemachte Nest", denn sie konnten alle Geschäftsverbindungen übernehmen, die ihre Geschwister seit 1910 geknüpft hatten. Hatte Bernhard Weinberg das Geschäft noch mit den ledigen Grünberg-Brüdern Philipp und Wilhelm gemeinsam aufgebaut und betrieben, wie aus dem Adressbuch von 1910 und aus der Mitteilung auf einer Postkarte von Viehhändler Julius Frank aus Leer an Frau Poppen in Ostrhauderfehn von 1912 zu ersehen ist, so geht aus dem Adressbuch von 1926 klar hervor, dass Alfred Weinberg das Geschäft jetzt allein führte, was nicht bedeutete, dass er nicht mit seinem Bruder Bernhard aus Weener und seinen Grünberg-Schwagern aus Leer eng zusammenarbeitete. Diese nannten damals schon einen großen Viehtransporter mit Außenschaltung ihr eigen. Damit holten sie ab und zu Großvieh bei Alfred Weinberg ab; daran erinnert sich jedenfalls Kapitän Hermann Buß, der bis 1927 in dem Harmschen Haus nebenan wohnte. Laut Schmiedemeister Brunsema, der ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zu Alfred Weinberg hatte, wurde der nach einiger Zeit ziemlich wohlhabend. Trotzdem war er sich nicht zu schade, auch kleine Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen, und wenn es der Kater der Familie Reents aus Ostrhauderfehn war, den er unentgeltlich mitnehmen konnte. Um bei seinen oft einfachen Geschäftspartnern keine übertriebenen finanziellen Begehrlichkeiten zu wecken, stellte er seinen bescheidenen Reichtum nicht zur Schau, sondern fuhr mit einem alten Fahrrad zu seiner Kundschaft. Bei den Weinbergs stellte sich bald Kindersegen ein: Am 23. 8. 1922 wurde Diedrich geboren - Dieter gerufen -, am 14. 11. 1923 Frieda - Friedel genannt - und am 7. 3. 1925 Albrecht - von seinen Spielkameraden später auch Alwin gerufen. Frau Flora beschäftigte ein Kindermädchen, Anni Lüdemann aus Leer, bis zum Sommer 1923, und bereits im Januar 1923 zog eine junge Verwandte ihres Mannes, Johanna Weinberg (* 13. 2. 1899 in Ennigloh), zu ihnen nach Westrhauderfehn. Sie meldete sich als Pensionärin auf dem Einwohnermeldeamt an und blieb bis zum 25. 9. 1924, als sie sich nach Ahle bei Herford verabschiedete. Ansonsten gehörte laut Auskunft der ehemaligen Nachbarin Agathe Helling geb. Brunsema noch eine Eggeline Meyer aus Rhaudermoor zu den Haushaltshilfen. Sie soll auch die Rolle des "Sabbatgois" wahrgenommen haben. Neben dem Vieh-, Fell- und Schrotthandel betrieben die Weinbergs, wie alle Viehhändler damals, auch eine kleine Landwirtschaft. Dini Schustereit geb. Saadhoff aus der Nachbarschaft erinnerte sich, dass sie früher bei Weinbergs Milch holte wie sicherlich auch noch andere Nachbarn. Agathe Helling hatte noch bis ins hohe Alter die vielen Hühner und die von Eiern überquellenden Nester vor Augen. Alfred Weinberg bekam bei seinen Geschäften oft ein Huhn "up Koop toe". Zusätzlich zu ihrem eigenen Grundstück hatten Weinbergs noch ein Stück Weideland und eine große Streuobstwiese von dem Auktionator Conrad Graepel am Rajen gepachtet. Therese Luikenga geborene Schulna wohnte dort in der Nähe. Sie erinnert sich, dass die Weide eingezäunt war, während unter den Apfelbäumen einzelne Kühe oder auch Schafe angepflockt waren. Manchmal kam es vor, dass sich ein Tier mit dem Tau zwischen den Bäumen verhedderte, dann wurde Therese von ihrer Mutter zu Weinbergs geschickt, um sie darüber in Kenntnis zu setzen. Dass Alfred Weinberg nicht nur ein erfolgreicher Viehhändler war, sondern auch sehr viel von Tieren verstand, lässt sich aus einer Begebenheit schließen, die sich zu Beginn der 1930er Jahre zugetragen hat und an die sich Johannes Lücht noch bis ins hohe Alter erinnert: Als eines Tages Lüchts einzige Kuh kalbte, blieb das verhältnismäßig große Kalb stecken und ließ sich nicht wie üblich herunterziehen. Der herbeigerufene Tierarzt fand auch keine Lösung und schlug als letzten Ausweg vor, das Kalb abzuschneiden, um so die Kuh zu retten. Bevor es dazu kam, wurde Johannes Lücht von seiner Mutter zu Alfred Weinberg geschickt. Der kam auch gleich zusammen mit seinem Bruder Bernhard und sah sich die Kuh an. Beide Weinberg-Brüder stellten die Kuh so hin, dass sie ihren Rücken ganz krumm machen musste und nach kurzer Zeit ließ sich das benommene Kalb langsam herunterziehen. Nachdem Alfred Weinberg ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen hatte, wurde es quietschlebendig und konnte abgerieben werden. Die drei Weinberg-Kinder besuchten alle die heutige Sundermannschule am Untenende, und Dieter wurde nach der Grundschulzeit in die Mittelschule Westrhauderfehn aufgenommen (heute: Kreisrealschule Overledingerland). Sie waren Untenendjer Kinder wie andere auch, und wie alle echten Fehntjer Jungen brach Albrecht eines Tages auf dem zugefrorenen Kanal ins Eis ein und musste herausgezogen werden. Daran erinnert sich noch Johannes Lücht aus der Nachbarschaft. Die Weinbergs sprachen plattdeutsch wie die meisten Leute damals und unterschieden sich nur in ihrer Religion von den übrigen Fehntjern. Hildegard Albert geb. Ulpts aus der Dr.-Leewog-Straße wohnte bis 1932 in der Nachbarschaft der Weinbergs. Sie ging mit Friedel und Albrecht zur Schule und spielte oft mit ihnen. Sie erinnert sich, dass Mutter Flora am Sabbat wohl zu ihr sagte: "Kannst du uns wall 'n Stückje Törf in't Obend leggen?" Anlässlich hoher jüdischer Feiertage und manchmal auch zum Sabbat fuhren die Weinbergs mit der Eisenbahn über Ihrhove nach Weener zu ihren Verwandten. Die Nachbarn Brunsema versorgten dann das Vieh und molken die Kühe. Als Entgelt durften sie die Milch behalten. In Weener besuchte Familie Weinberg dann die Synagoge und Dieter und Albrecht feierten dort auch ihre Bar Mizwa, als sie das dreizehnte Lebensjahr vollendet hatten. Der Besuch bei der Großmutter Frauke Grünberg geb. Cohen in der Kommerzienrat-Hesse-Straße wurde für die heranwachsenden Weinberg- Kinder im Laufe der Jahre zur lieben Gewohnheit, und Weener wurde gleichsam zur zweiten Heimat. Friedel und Albrecht Weinberg erinnern sich auch heute noch gern daran. Nach Hitlers "Machtergreifung" am 30. 1. 1933 gehörte diese Zeit des friedlichen Zusammenlebens bald der Vergangenheit an. Nicht nur in der großen Politik wurden neue Akzente gesetzt, sondern auch hier auf dem Fehn wurde die Bevölkerung lautstark und mit hektischer Betriebsamkeit darauf aufmerksam gemacht, dass andere Zeiten angebrochen waren. Im April 1933, während der Tage des Boykotts jüdischer Geschäfte, erschien der junge Bahns vom Hotel Frisia in SA-Uniform bei Weinbergs und forderte die Herausgabe der Schächtmesser, die Alfred Weinberg bisher zum koscheren Schlachten für den Eigenbedarf benutzt hatte. Das Schächten wurde in Deutschland verboten, und wie in vielen anderen Städten wurden auch in Leer die Schächtmesser öffentlich verbrannt. Gegenüber Weinbergs Haus, wo der Untenendjer Kanal einen Knick in Richtung Schleuse, Mühle und Verlaatshaus macht, befand sich früher Harms Helgen. Auf diesem Gelände stand später die Drogerie Prahm. Das winzige dreieckige Grundstück davor am Ortsausgang Richtung Ostrhauderfehn gehörte der Gemeinde. Heute überquert dort der Radweg die Bundesstraße 438 mitten durch das Blumenbeet. Diese Stelle erkoren sich die lokalen NS-Größen gleich im Frühjahr 1933 für ihre parteipolitischen Aktivitäten aus: Sie richteten das kleine Grundstück her und nannten es "Adolf-Hitler-Platz". Selbstverständlich gab es eine offizielle Einweihung mit Aufmärschen, Fahnen, Schildern und dem üblichen Medienrummel. Wie zu erwarten, hatten Weinbergs unter der Nähe zu dieser neuen NS-Einrichtung zu leiden. Schon während der Herrichtung des Platzes klopften NS-Leute bei ihnen an die Tür oder an die Fenster und machten ihnen Angst. Da in den Monaten und Jahren danach dieser Platz bei besonderen Anlässen meistens ein Ziel-oder Ausgangspunkt für Aufmärsche war, musste die Familie Weinberg jedes Mal mit diesen Belästigungen und Bedrohungen leben. Am Tage der Einweihung kam eine Abordnung und bot ihnen zwei Freikarten für Palästina an. "Hätten wir sie man genommen", sagen Albrecht und Frieda Weinberg heute. Obwohl sie noch Kinder waren, bekamen Dieter, Friedel und Albrecht auch schon bald die Folgen der NS-Judenhetze zu spüren. Die Spielkameraden und Mitschüler zogen sich nach und nach zurück. Für viele von ihnen waren sie jetzt bloß noch "olle Jöden", Kinder zweiter Klasse, mit denen man nicht mehr gerne etwas zu tun haben wollte und auf die man keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte. Die neuen Organisationen, seien es die "Pimpfe" oder die "Jungmädel", bei denen viele Klassenkameraden begeistert mitmachten, waren ohnehin für Juden verboten. Die beiden Jungen von der Drogerie Prahm aus der Nachbarschaft, die bisher zu den Spielkameraden der Weinberg-Kinder gehört hatten, wollten nichts mehr von ihnen wissen. Sie spuckten sie jetzt an und warfen eines Tages sogar mit Steinen nach ihnen. Dieter, Friedel und Albrecht waren auf dem Fehn bald völlig isoliert und verstanden die Welt nicht mehr. Es muss für sie sehr schmerzlich gewesen sein, dass sie von ihren Mitschülern und auch von einigen Lehrern mehr und mehr drangsaliert und ausgegrenzt wurden. Eine neue Hiobsbotschaft für die Weinbergs war die Verfügung über die Rassentrennung an den Schulen vom 10. 9. 1935. Diese Regelung wurde ab 1936 in den einzelnen Gemeinden umgesetzt. Dieter musste bald darauf die Mittelschule in Westrhauderfehn verlassen und seine Schullaufbahn aufgeben. "Weinberg, pack deine Sachen und geh nach Hause! Du hast hier nichts mehr zu suchen," hieß es eines Tages, erinnert sich Johannes Lücht. Da Dieter seine achtjährige Schulpflicht erfüllt hatte, begann er eine kaufmännische Lehre in Emlichheim im Kreis Grafschaft Bentheim. Friedel und Albrecht mussten nun die jüdische Schule in Leer besuchen. Diese bis dahin einklassig geführte Einrichtung war auf den plötzlichen Schüleransturm aus allen Teilen des Landkreises gar nicht eingerichtet und bald hoffnungslos überfüllt. Obwohl die israelitischen Lehrer Popper und später Spier und Hirschberg ihr Bestes versuchten, fehlte es an allen Ecken und Enden, denn die Stadt Leer, die für die sächlichen Kosten der Schule aufzukommen hatte, reduzierte ab 1936 die finanziellen Zuwendungen von bisher 1 100 RM jährlich auf 400 RM. Das Lehrergehalt wurde allerdings wie bei anderen Schulen vorerst weiter vom Staat bezahlt. Die Weinberg-Kinder konnten nun während der Woche nicht mehr bei ihren Eltern in Westrhauderfehn wohnen, denn der Schulweg war zu weit, und bei einer täglichen Fahrt mit der Kleinbahn nach Leer hätten sie zu viele Pöbeleien der Mitreisenden über sich ergehen lassen müssen. Außerdem wäre es ihren Eltern schwer gefallen, das Geld für die Fahrkarten aufzubringen, denn die Geschäfte gingen in diesen Jahren schon spürbar schlechter. Wie gut war es deshalb, dass sie Verwandte und gute Bekannte in Leer hatten! Albrecht wohnte jetzt während der Woche bei seinem Onkel und seiner Tante, Willy Cohen und Maria geb. Grünberg, in der Bremer Straße 70. Dort konnte er mit seinem gleichaltrigen Cousin Alfred spielen. Sein Vetter Dago und seine Cousinen Frieda und Resi waren zu der Zeit schon erwachsen. Friedel kam bei Bekannten unter, im Hause des Viehhändlers Albert Frank in der Bremer Straße 64, in der Nachbarschaft von ihrem Bruder Albrecht. Obwohl ihre Gastfamilien es sicher nicht an liebevoller Fürsorge fehlen ließen, hatten Albrecht und Friedel natürlich Heimweh nach Vater und Mutter und nach ihrem Zuhause auf dem Fehn. Gleich zu Beginn der NS-Zeit, im April 1933, gab es eine Aktion "Boykott der jüdischen Geschäfte". SA-Leute stellten sich ein paar Tage lang vor die jüdischen Läden und wollten die Kunden vom Einkaufen abhalten, um den Juden auf diese Weise Verdienstausfälle zu bescheren. Auf diese Weise hoffte man, die Juden auf lange Sicht zum Auswandern bewegen zu können, da die Käufer ausblieben. Diese Hoffnung der NS-Regierung ging aber in der Branche des Viehhandels im nordwestdeutschen Raum so bald nicht in Erfüllung, denn ohne die jüdischen Viehhändler wäre die gesamte Infrastruktur des Viehhandels zusammengebrochen, da die Juden in dieser Branche fast ein Monopol hatten. Obwohl der agrarpolitische Fachberater der NSDAP, W. Voß, schon am 5. April 1933 im Anschluß an den Viehmarkt in Leer im Centralhotel einen nationalsozialistischen Viehhändlerverband gründete, zu dem Juden selbstverständlich keinen Zutritt hatten, setzten die meisten Bauern einstweilen ihre Geschäfte mit den Juden fort, zumal ihnen deren Geschäftsusancen besser gefielen als die Praktiken vieler nichtjüdischer Händler. Das änderte sich erst 1935, als die Juden durch die "Nürnberger Gesetze" zu Menschen minderen Rechts gemacht wurden. Es war zwar noch nicht verboten, mit Juden Geschäfte zu machen, aber zwei Jahre antijüdische Hetze übelster Sorte und zwei Jahre "Gleichschaltung" aller Medien und gesellschaftlicher Gruppen mit entsprechender Einschüchterung der Abweichler wirkten sich nach und nach sehr negativ auf die Geschäfte der Juden aus. Auch gutwillige Leute scheuten sich davor, im "Stürmerkasten" als Judenknechte angeprangert zu werden und sahen sich nach Alternativen um. Und die gab es mittlerweile auch im Viehhandel, denn die NS-Regierung hatte das Bezugs- und Absatzgenossenschaftswesen im ländlichen Raum in der Zwischenzeit stetig ausgebaut. Auch beim Vieh-, Fell- und Schrotthändler Alfred Weinberg in Westrhauderfehn liefen die Geschäfte nicht mehr richtig. Es wurde kaum noch etwas verdient. Johann Korrelvink aus Ostrhauderfehn, der 1936 bei der Firma Wilhelm Olligs im Westrhauderfehner Untenende eine kaufmännische Lehre begann, erinnert sich, dass Dieter Weinberg dort damals ab und an nur noch 50 Pfund Kohlen für den häuslichen Bedarf einkaufte und sie mit dem Eimer zu seinen Eltern nach Hause trug. Am 20. Juli 1935 machte die Ostfriesische Tageszeitung in einer Hetzbeilage die Leser noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam, dass das Produkten- und Viehgeschäft von A. Weinberg in Westrhauderfehn ein jüdisches Geschäft sei. Im Januar 1936 sahen sich die Grünbergs und Weinbergs gezwungen, ihr Haus mit Grundstück in Westrhauderfehn an den Schiffsmakler und Werftbetreiber Harm Schaa von der Witten Hülle am Hauptfehnkanal weit unter Preis zu verkaufen. Ein Teil des Kaufpreises wurde als Hypothek eingetragen und sollte erst 1941 mit 5% Zinsen an die drei Schwager von Hermann Grünberg ausgezahlt werden. Da Friedel und Albrecht in Leer die Schule besuchten, guckten sich Flora und Alfred Weinberg dort nach einer Wohnung um. Sie scheinen nicht auf Anhieb eine gefunden zu haben, denn offensichtlich haben sie nach dem Verkauf ihres Hauses am Untenende noch für eine Übergangszeit auf der Witten Hülle gewohnt. Bei ihrer Anmeldung in Leer am 22. 8. 1936 gaben sie jedenfalls als Herkunftsort Rhaudermoor an und nicht Westrhauderfehn. Die Familie war letztendlich heilfroh, dass sie eine kleine gemeinsame Hinterwohnung im Hause des Viehhändlers Polak in der Bremer Straße 62 beziehen konnte. Obwohl sie einen Teil ihrer Möbel im Kuhstall unterstellen mussten, weil in der Wohnung nicht genug Platz vorhanden war, freuten sich doch alle, wieder beisammen zu sein. Am 23. Juni 1937 kam dann auch Dieter von Emlichheim wieder nach Hause. Um diese Zeit lebten die meisten jüdischen Familien nur noch von ihrer Substanz und hofften auf bessere Zeiten. Etliche wagten auch im Ausland einen Neuanfang, vor allem in Holland, denn für Juden mit niederländischer Staatsangehörigkeit waren die Ausreisebedingungen 1936 noch vergleichsweise günstig. Es gab ein Abkommen zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der niederländischen Regierung, dass diese Juden bis zu 40 000 RM zum Aufbau einer neuen Existenz transferieren konnten. Dieses Transferabkommen endete allerdings am 31. März 1937. Juden mit deutschem Pass durften in der Regel nur ihre Möbel mitnehmen und bis zu 2000 RM Bargeld, wenn es ihnen gelang, alle Unterlagen für die Auswanderung zu beschaffen. Auch wenn die Zentralstelle für jüdische Auswanderer in Berlin bei der Koordination behilflich war, warteten viele Ausreisewillige vergeblich auf ein Einreisevisum, denn wie in den meisten europäischen Ländern neigte man auch in Holland mehr und mehr dazu, sich gegen die ständig anschwellende Flut der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland abzuschotten. Da Weinbergs keine Möglichkeit sahen, mit ihren geringen Mitteln in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen, und sie auch keine Verwandtschaft in Holland hatten, die sie in der Übergangszeit hätte unterstützen können, wie ein paar andere hiesige jüdische Familien, blieben sie in Leer und hofften auf bessere Zeiten. In der Pogromnacht am 9. November 1938, der sogenannten "Kristallnacht", wurde auch den letzten Juden mit einem Schlag klar, dass man auf eine Besserung der Verhältnisse in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr hoffen konnte. Überall in Deutschland und dem inzwischen angeschlossenen Österreich brannten in dieser Nacht und am folgenden Tag die Synagogen, und zahlreiche Geschäfte und Wohnhäuser wurden geplündert und demoliert. Was als spontaner "Volkszorn" ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine gezielt vorbereitete Aktion der NS-Regierung. Auch in Leer brannte unter Anleitung von Bürgermeister Drescher bald die große Synagoge an der Heisfelder Straße. Die jüdischen Familien wurden aus den Häusern geholt und auf die Nesse zum Viehhof getrieben. Unter ihnen war auch die Familie Weinberg aus der Bremer Straße 62. Die vierzehnjährige Friedel hatte ein paar Wochen zuvor, im August 1938, gerade ihre erste Arbeitsstelle als Dienstmädchen in einem jüdischen Geschäftshaushalt in Emden angetreten. Sie wurde dort von den Ereignissen überrascht und war heilfroh, dass ihre Mutter sie bald von dort wieder zu sich nach Leer holte. In den jüdischen Geschäften und Wohnhäusern machten sich SA-und HJ-Horden zu schaffen und hinterließen in den meisten Fällen ein "Schlachtfeld". Auch bei den Grünbergs in der Reimerstraße und in der Bremer Straße erschienen SA-Leute und konfiszierten alles, was irgendwie ein bisschen wertvoll aussah: silberne Bestecke, Silber- und Zinnbecher, Armbänder, eine Kaffeekanne, ein Radio, 900 RM in bar und zwei Sparbücher, die aber fast kein Guthaben mehr aufwiesen. Die Frauen, die Kinder und die gebrechlichen alten Männer ließ man im Laufe des 10. November nach Hause gehen. Die übrigen 56 Männer wurden im Viehhof in den Schweinestall gesperrt und am nächsten Tag, dem 11. 11. 1938, zusammen mit den Männern der übrigen jüdischen Gemeinden aus der Umgebung in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert. Unter ihnen waren auch Alfred und Bernhard Weinberg und ihre Grünberg-Schwagern. Karl Polak, der den Holocaust überlebt hat und im Herbst 1945 nach Leer zurückkehrte, berichtete später darüber: "Am Nachmittag kamen Viehwaggons. Wir wurden wie Vieh mit Schlägen hineingetrieben, und dann setzte sich der Zug in Richtung Oldenburg, etwa 60 km entfernt, in Bewegung. Dort durchfuhren wir den Bahnhof und hielten irgendwo auf den Geleisen. Von ferne sahen wir ein großes Gebäude, das aussah wie eine Schule oder eine Kaserne, und auf dem Hof davor sehr viele Menschen, offenbar zusammengetrieben aus dem ganzen Bezirk. Ihr Anblick war jammervoll. Niemand von uns wußte den Grund für diese Massenverhaftungen, noch was man mit uns vorhatte. Wir waren in absoluter Unkenntnis und Hoffnungslosigkeit. Aber ich erblickte unter den vielen Gesichtern das meines Onkels Jakob aus Oldersum, er war ein Bruder meines Vaters. Unablässig trafen neue Wachmannschaften ein, an den Zug wurden immer neue Waggons gekoppelt; zwischendurch erhielten wir etwas Kommißbrot. Dann brüllten unsere Wächter Befehle, so daß unsere Leute immer unruhiger wurden. Besonders die Älteren litten unter dieser Behandlung und fielen beinahe um. Einer von ihnen war mein Onkel Jakob, Schwerbeschädigter aus dem ersten Weltkrieg. Er hatte noch Granatsplitter im Körper, die nicht hatten entfernt werden können und die machten ihm immer noch Beschwerden. In der folgenden Nacht setzte sich der endlose Zug in Bewegung, immer noch unter strenger Bewachung. Stundenlang rollten wir, nach unserer Meinung in östliche Richtung, mit langen Aufenthalten auf Ausweichgeleisen. Flucht war unmöglich; denn unsere Bewacher waren bewaffnet, außerdem hätten nur wenige von uns dazu noch die Kraft gehabt.Endlich, nach vielen Aufenthalten und Rangierereien, hielt der Zug. Ich dachte, wir wären in der Umgebung von Berlin, und das erwies sich dann auch als richtig. Die Türen der Waggons wurden brutal aufgerissen, und wir sahen eine große Anzahl von SS-Leuten auf uns zukommen; sie waren mit Reitpeitschen bewaffnet und hatten Hunde bei sich. Einige brüllten: "Kommt raus, ihr dreckigen Judenschweine, los, lauft! Beeilung!" Wir glaubten, die Welt ginge unter. Die Älteren von uns stolperten beim Sprung aus dem Waggon, und dann wurden sie heftig angeschnauzt. Die SS-Leute schlugen auf sie ein, hetzten ihre Hunde auf sie und ließen diese zubeißen. Ein alter Mann, Herr Sally Löwenstein, fiel tot um. Wir anderen liefen, immer von den SS-Leuten getrieben, in ein Barackenlager, das von einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umgeben war; es war das Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg. Über dem Eingangstor standen die Worte zu lesen: "Arbeit macht frei!" Wir mußten auf einem großen Platz in Fünferreihen antreten, und dort haben wir zwanzig Stunden lang gestanden. Viele brachen zusammen und blieben leblos am Boden liegen. Während dieser Zeit fragte die SS jeden nach seinem Beruf. Diejenigen, die einen freien Beruf angaben, der womöglich noch ein langes Studium erfordert, etwa Ingenieur oder Rechtsanwalt, erhielten einen besonderen Denkzettel in Form von Fuß tritten und Faustschlägen. Einen von uns fragte ein SS-Mann: "Bist du Rabbiner?" "Nein, ich bin Lehrer." "Ein stinkiger Jude bist du!" brüllte der zurück. Der Unglückliche mußte unter den Schlägen des SS-Mannes mit lauter Stimme mehrmals wiederholen: "Ich bin ein stinkiger Jude." Ein alter Mann fiel ohnmächtig um. Ein SS-Mann trat herzu, versetzte ihm einige Stiefeltritte und sagte: "Steh' auf, du bist hier nicht im Sanatorium!" Aber der Mann blieb leblos, trotz der Tritte. Nach einer Stunde wurde er auf einer Bahre fortgetragen; er war schon lange tot. - Ich berichte hier nur über Vorfälle, die ich selbst aus der Nähe beobachten konnte; aber man könnte ein ganzes Buch nur über unseren Empfang und unseren Aufenthalt in Sachsenhausen schreiben. Bevor wir in die Baracken eintreten durften, wurden uns die Haare geschoren; unsere persönlichen Sachen wurden uns abgenommen und in einem namentlich gezeichneten Säckchen verschlossen. Dann erhielten wir Gefangenenkleider mit einer aufgenähten Zahl. Während der drei Monate, die ich in Sachsenhausen verbrachte, habe ich viel Leid gesehen. Morgens wurden - nach endlosen Zählappellen - die Arbeitsfähigen an den Arbeitsplatz gebracht. Es war Winter und bitterkalt. Die Älteren erstarrten bei dem Frost und wurden krank. Ich mußte mit einer Gruppe von Leidensgefährten in einer Hafenanlage arbeiten. Dort waren Kähne zu entladen, die mit Steinen, Zementsäcken und Ziegelsteinen beladen waren. Wer sich ungeschickt anstellte oder zu schwach war, wurde von der SS-Wache in den Kanal geworfen und mußte anschließend den ganzen Tag in den nassen Kleidern arbeiten. Das löste vielerlei Erkrankungen aus, die oft tödlich ausgingen. Auch innerhalb des Lagers waren gewerbliche Werkstätten, in denen Häftlinge von uns eingesetzt wurden. Dort war die Arbeit etwas leichter, doch auch nicht ohne Schikanen. Nach ungefähr zwei Wochen wurden die ersten Gefangenen, die zusammen mit mir angekommen waren, entlassen. Bis Ende Dezember erhielten die Älteren, besonders die ehemaligen Weltkriegsteilnehmer, eine gewisse "Freiheit" zurück. Zu diesen gehörten auch mein Vater und mein Onkel; beide hatten sehr unter der Haft gelitten. Mein Vater hatte Erfrierungen an Händen und Füßen; auch mein Onkel war von den Mißhandlungen gezeichnet. Für mich war es eine Erleichterung zu wissen, daß ich als Einziger von meiner Familie in diesem Lager blieb. Wer das Lager verließ, mußte sich bei der "politischen Abteilung" durch Unterschrift verpflichten, nichts von dem zu enthüllen, was er gesehen, gehört oder erlitten hatte. Mir persönlich wurde bei der Entlassung bedeutet, daß ein Bruch dieses Verbots eine mehrjährige Haftstrafe zur Folge haben würde. - Man kann sich vorstellen, mit welcher Vorsicht wir uns bewegen mußten, als wir wieder zu Hause waren." Soweit der Bericht von Karl Polak. Die meisten Gefangenen kamen nach und nach frei. Etliche ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer überlebten diese Zeit nicht. Karl Polak wurde am 9. Februar 1939 entlassen. Die letzten Leeraner Juden kamen erst Ende Februar wieder nach Hause, unter ihnen auch Alfred Weinberg. Die zurückgebliebenen Frauen und Kinder standen nach der Pogromnacht ziemlich mittellos da. Abgesehen von der Tatsache, dass sie auf eigene Rechnung dafür zu sorgen hatten, die Spuren der Plünderungen und Zerstörungen zu beseitigen, wurde allen Juden eine "Schuld" von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, angeblich für die Unkosten, die durch den organisierten "Volkszorn" entstanden waren. Aus diesem Grunde wurden im Laufe der nächsten Wochen die restlichen jüdischen Häuser "zwangsarisiert", auch die Häuser der Grünberg-Brüder in Leer und Weener. Den Verkaufserlös erhielt der Fiskus. Damit die Frauen und Kinder nun nicht verhungerten, zweigte man auf Anordnung des Bürgermeisters Drescher vom 22. 11. 1938 von dem beschlagnahmten Geld 500 RM ab und zahlte ihnen davon hin und wieder kleine Unterstützungsbeträge von fünf oder zehn Reichsmark aus. Auch die Weinbergs und Grünbergs erhielten im November je zweimal zehn bzw. fünf Reichsmark. Mehreren jüdischen Familien wurde nach der "Zwangsarisierung" ihrer Häuser von den neuen Besitzern bald ihre Wohnung gekündigt, denn für Juden in "arischen" Häusern gab es laut des Gesetzes über "Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939 keinen Kündigungsschutz mehr. Sie konnten nur noch in ganz wenigen Häusern, sogenannten "Judenhäusern", unterkommen, die die Stadt zu diesem Zweck einstweilen noch in jüdischem Besitz belassen hatte. Hier herrschte bald drangvolle Enge. Auch waren die Kommunen und Landkreise gehalten, einmal monatlich Listen an die Bezirksregierung zu schicken mit allen Um-, Ab- und Anmeldungen der noch verbliebenen Juden. Im Sommer 1939 musste auch die jüdische Schule in Leer ihre Pforten endgültig schließen, denn der NS-Staat wollte nicht mehr für die laufenden Kosten aufkommen und auch den Lehrer nicht mehr bezahlen. Laut Verordnung vom 4. Juli 1939 war dafür jetzt die Reichsvereinigung der Juden zuständig. Die Mitgliedschaft in dieser Reichsvereinigung, die eine zwangsweise Zusammenfassung aller jüdischen Gemeinden darstellte, war für alle Juden und ehemalige Juden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen obligatorisch. Die jüdische Gemeinde in Leer und ihre Mitglieder hatten nach den Ereignissen der "Kristallnacht" für den Unterhalt ihrer Schule jedoch keine Mittel mehr. Der letzte jüdische Lehrer, Seligmann Hirschberg, musste mit seiner Familie die Dienstwohnung verlassen und sich nach einer anderen Verdienstmöglichkeit umsehen. Das Schulgebäude ging in den Besitz der Stadt Leer über. Für den Sabbat-Gottesdienst, den man nach der Zerstörung der Synagoge in der Schule gefeiert hatte, wurde in dem ehemaligen koscheren Restaurant in der Kampstraße ein bescheidener Ersatz hergerichtet. Zu dem alltäglichen Kampf der jüdischen Eltern um Lebensunterhalt und Unterkunft, sowie zu der Angst vor gewalttätigen Übergriffen der NS-Organisationen, gesellten sich nun auch noch die Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder. Für sie wurde der Alltag in Leer immer unerträglicher. Sie konnten nicht mehr zur Schule gehen, und in den viel zu kleinen Wohnungen gab es keinen Platz zum Spielen. Sie durften nicht mehr in den Julianenpark und in den Inselgarten auf der Nesse oder auf den Plytenberg. Sie konnten weder auf den Sportplatz, noch in die Badeanstalt an der Georgstraße, noch auf den Spielplatz oder in den Zoo bei "Onkel Heini" in Logabirum. Auch im Kino oder auf dem Gallimarkt durften sie sich nicht mehr sehen lassen. Überall standen Schilder "KEIN ZUTRITT FÜR JUDEN", und auch in fast allen Geschäften waren Juden unerwünscht. Viele Kinder und Jugendliche trauten sich kaum noch auf die Straße. Um dem trostlosen Leeraner Alltag zu entgehen und um wenigstens irgendeine Art Ausbildung zu absolvieren, bemühten sich die meisten Jugendlichen um einen Platz in einer Ausbildungsstätte des Chalutz Verbandes. Diese internationale Organisation unterhielt europaweit Einrichtungen, die junge Leute auf ein Leben in Palästina vorbereiteten. Die Jugendlichen wurden dort in handwerklichen Fertigkeiten, in der Landwirtschaft, im Gartenbau und in mehreren Sprachen ausgebildet. Eine solche Gartenbauschule gab es z.B. in Ahlem bei Hannover. Dorthin ging Dieter Weinberg am 14. Dezember 1938, nachdem er um die Jahreswende 1937/38 schon ein paar Wochen lang vergeblich versucht hatte, in Berlin Fuß zu fassen. Durch die Unterstützung des Reichsbundes der Jüdischen Frontsoldaten, dem Alfred Weinberg als Weltkriegsteilnehmer angehörte, gelang es Friedel und Albrecht, am 29. April 1939 in das Jugendlager Groß Breesen bei Guben an der Oder aufgenommen zu werden. Die Ausbildungsstätte war in einem ehemaligen Gutshof mit wunderschöner Umgebung untergebracht. Vierzehn- bis achtzehnjährige Jugendliche wurden dort in der Landwirtschaft ausgebildet. Da Friedel und Albrecht hier unter lauter jüdischen jungen Leuten waren, fühlten sie sich nach langer Zeit endlich wieder frei und unbeschwert. Einige Freundschaften, die sie damals dort geschlossen haben, bestehen heute noch. Im Februar 1940, als alle Juden Ostfriesland verlassen mussten, kam auch ihr Cousin August Grünberg aus der Bremer Straße 14a noch dorthin. Alfred und Flora Weinberg mussten im Sommer 1939 die Wohnung in der Bremer Straße 62 bei Polaks aufgeben und wechselten am 6. Juli in die Reimerstraße 6 zu ihren Verwandten Philipp und Angelica Grünberg. Doch nach Beginn des II. Weltkrieges am 1. September 1939 gab es für die noch in Leer verbliebenen Juden bald eine neue Hiobsbotschaft: Im Januar 1940 beschloss die Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven, die für das hiesige Gebiet zuständig war, Ostfriesland als "Grenzgebiet zum Feindesland" von potentiellen Spionen zu säubern. Da Juden per se als Feinde des deutschen Volkes galten, beauftragte man den Auricher Synagogenvorsteher Wolffs, bzw. dessen Sohn, dafür Sorge zu tragen, dass alle Juden Ostfrieslands sich bis zum 1. April 1940 einen neuen Wohnsitz außerhalb Ostfrieslands suchten. Wer keine neue Bleibe fand, musste sich den organisierten Transporten nach Berlin anschließen. Mit einem dieser Transporte verließen auch Alfred und Flora Weinberg die Reimerstraße in Leer am 16. 2. 1940 in Richtung Berlin. Sie durften nur wenig Gepäck mitnehmen und wurden in Alt-Moabit, Charlottenburg, in einem sogenannten "Judenhaus"in der Kirchstraße 22 untergebracht. Jede Familie hatte dort nur ein Zimmer zur Verfügung. Hatten die Weinbergs in Leer oder Weener während der mageren letzten Jahre immer noch ein paar nichtjüdische Bekannte gehabt, von denen sie ein wenig Unterstützung erhoffen konnten, so war ihnen hier in Berlin alles fremd. Da die Versorgung mit Lebensmitteln erbärmlich war, freute sich Flora Weinberg, dass ihre ehemalige Nachbarin Ruth Zimmermann aus Weener sie nicht vergessen hatte und ab und zu ein Päckchen mit Nahrungsmitteln schickte oder auch ein paar Abschnitte einer Lebensmittelkarte. Auf ihrer Karte vom Februar 1943 bedankte sich Frau Flora für die "Bildchen", die sie von Ruth bekommen hatte, "sie waren sehr angebracht." Alfred Weinberg wurde bald zur Arbeit in einer Fabrik eingeteilt. Zum Glück gab es dort auch ein paar nette Kollegen, die auf ihn Rücksicht nahmen, denn die ungewohnte Arbeit ging ihm in seinem Alter nicht mehr leicht von der Hand. Im Februar 1941 wurde das Jugendlager in Groß Breesen aufgelöst. Es hatte seit Beginn des Krieges zwar schon unter der offiziellen Leitung der Gestapo gestanden, aber die interne Organisation war noch in jüdischer Hand geblieben. Friedel und Albrecht Weinberg wurden jetzt mit ihren jugendlichen Kolleginnen und Kollegen in ein Zwangsarbeitslager für Juden nach Wulkow gebracht. Dieses Lager unterstand dem Reichssicherheitshauptamt und lag in Brandenburg in der Nähe von Neuruppin in einem Wald. Sie wurden in Baracken untergebracht und bekamen nur wenig zu essen. Sie mussten zwölf Stunden am Tag Grubenholz schneiden. Manchmal wurden sie auch abkommandiert, um Kohlen oder Briketts auszuladen oder um an Wochenenden irgendwelchen Nazibonzen aus Berlin bei der Treibjagd behilflich zu sein. Da Wulkow nicht allzuweit von Berlin entfernt lag, verließen Friedel und Albrecht einige Male heimlich das Lager und fuhren mit der Eisenbahn und der S-Bahn nach Berlin zu ihren Eltern. Das war natürlich streng verboten, aber die beiden wagten es trotzdem. "Wir hatten ja nichts mehr zu verlieren. Ein schlechteres Leben als im Lager Wulkow konnten wir uns damals kaum vorstellen," sagen die Geschwister heute. Dabei standen sie jedesmal Todesängste aus und gaben sich unterwegs alle Mühe, nicht aufzufallen. Ihren gelben Stern, den sie seit 1941 tragen mussten, verbargen sie, indem sie die Jacken umdrehten. Als sie ihre Eltern etwa Ende Februar 1943 zum letzten Mal trafen, war Dieter kurz vorher schon abgeholt worden. Dieter Weinberg muss 1941/42 zu seinen Eltern nach Berlin gekommen sein. Die Gartenbauschule in Ahlem bei Hannover, wo er eine Ausbildung erhielt, wurde während dieser Zeit geschlossen und zur zentralen Sammelstelle aller Juden aus den Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim umfunktioniert. In Berlin wurde Dieter wie sein Vater zur Zwangsarbeit in einer Fabrik verpflichtet. Schon seit Oktober 1941 wurden von Berlin Juden deportiert: Zuerst in das Ghetto nach Lodz, ab 1942, nach der Wannsee-Konferenz, nach Riga, Minsk und Kowno. Auch nach Theresienstadt und Auschwitz gab es im Laufe des Jahres von Berlin aus etliche Transporte. Die großen Massendeportationen von Berlin nach Auschwitz setzten im Februar 1943 ein. In einem dieser Güterwaggons saß auch Dieter Weinberg. Er wurde direkt von der Arbeitsstelle aus in den Zug verbracht, ohne die Eltern benachrichtigen oder sich von ihnen verabschieden zu können, wie seine Mutter Flora ein paar Tage später auf einer Postkarte ihrer ehemaligen Nachbarin Ruth Zimmermann in Weener mitteilte. Alfred und Flora Weinberg selbst wurden am 17. März 1943 nach Theresienstadt deportiert, denn Alfred Weinberg war als Soldat im I. Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, so dass das Ehepaar in das Lager für Privilegierte verbracht wurde. Doch auch von dort gingen ab und zu Transporte nach Auschwitz, wenn das Lager in Theresienstadt zu voll wurde. Wo und wann genau ihre Eltern umgekommen sind, wissen Friedel und Albrecht bis heute nicht. Im Jahre 1944 erhielt Friedel in Auschwitz ein einziges Mal eine Karte von ihrer Mutter aus Theresienstadt, seitdem haben sie nichts mehr von ihren Eltern gehört. Im März 1943 wurden in und um Berlin alle Juden aus den kleinen Arbeitslagern herausgeholt und nach Berlin verfrachtet. Friedel und Albrecht wurden dort in die Hamburger Straße verbracht und von da aus am 19./20. April 1943 gemeinsam mit fast tausend Leidensgenossen mit mehreren Möbelwagen zum Bahnhof Grunewald gefahren, wo die Transporte nach Auschwitz ihren Anfang nahmen. Da Friedel und Albrecht Weinberg für arbeitstauglich gehalten wurden, entgingen sie glücklicherweise bei der "Selektion" an der "Rampe" in Birkenau den Gaskammern und wurden dort einem Lager zugewiesen wie zuvor schon ihr Bruder Dieter. Albrecht musste dort während der nächsten eineinhalb Jahre bei IG Farben Treibstoff produzieren. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren unmenschlich und der Tod war allgegenwärtig. Während der ganzen Zeit in Auschwitz hatten die drei Geschwister keinen Kontakt. "Ich habe Dieter ein einziges Mal bei einem Appell gesehen, als ich etwa vier Monate im KZ war", erinnert sich Albrecht. Friedel arbeitete lange Zeit im Stabsgebäude der SS. Dort hatte sie Einblick in die Todeslisten und wusste somit, dass ihre Brüder wahrscheinlich noch am Leben waren, da deren Nummern nicht aufgeführt waren. Als sie Diphterie bekam und ins Krankenrevier musste, hatte sie mit dem Leben schon fast abgeschlossen. Dreimal fand dort eine Selektion statt, die der berüchtigte KZ-Arzt Dr. Mengele höchstpersönlich vornahm. "Wir mussten uns nackt ausziehen und an ihm und zwei anderen Doktoren vorbeilaufen. Nur wer keine Krätze und Geschwüre hatte und für die Arbeit im Lager nicht zu schwach erschien, durfte bleiben, alle andern gingen ins Gas," erzählt Friedel. Vor einer weiteren Selektion hatte ihre Aufseherin sie gerade aus dem Krankenrevier wieder in die Arbeitsbaracke geholt. "Es ist verrückt, durch welche Zufälle man überlebt hat." Im Herbst 1944 wurde Albrecht Weinberg mit vielen anderen in das KZ Dora-Mittelbau bei Nordhausen in Thüringen verlegt, dort war in einem Stollensystem u.a. die Produktion für die V-2-Raketen angelaufen. Die Behandlung war hier besonders brutal. Es gab kaum noch etwas zu essen. Die Bewacher und oft auch das technische Personal trieben besonders die jüdischen Häftlinge in Zwölf-Stunden-Schichten ununterbrochen zur Arbeit an. Wer nicht mehr mithalten konnte, wurde ins Kz Auschwitz und ab Anfang 1945 ins KZ Mauthausen geschickt. Im KZ Dora-Mittelbau fand die Vernichtung durch Arbeit in der extremsten Form statt. Am 1. April 1945 begann die SS mit der Räumung des Lagers. Der "Todesmarsch" ging in das etwa 300 km entfernte KZ Bergen-Belsen. Unterwegs kamen noch Tausende um oder wurden ermordet. "Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen oder erschlagen. Wir haben während der kurzen Marschpausen auf den Leichen am Wegrand gesessen, um uns auszuruhen", berichtet Albrecht. Er erreichte dann schließlich mit seinen Leidensgenossen das KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Doch dort war das Elend noch nicht zu Ende, denn infolge der Überfüllung gab es weder Unterkünfte, noch Nahrungsmittel, noch Trinkwasser für die schier unzähligen Neuankömmlinge. Tausende starben in den folgenden Wochen an Entkräftung und an Typhus, der seit Januar im Lager grassierte. Wie schlimm es im KZ Bergen-Belsen zuletzt war, lässt sich aus der Bemerkung einer Holocaustüberlebenden erahnen, die gegen Kriegsende von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. Die alte Dame sagte während der Eröffnung des neuen Dokumentationszentrums in Bergen-Belsen am 28. Oktober 2007: "Gegenüber Bergen-Belsen war Auschwitz das Paradies." Tröstlich war für Albrecht, dass er hier seine Geschwister Dieter und Friedel wiedertraf. Sie waren auch auf "Todesmärschen" über mehrere Stationen nach hier gelangt. Friedel war zwischenzeitlich noch einige Zeit im KZ Ravensbrück gewesen. Am 15. April 1945 wurde Bergen-Belsen endlich von den Engländern befreit. Nach Kriegsende machten sich die Geschwister auf die Suche nach ihren Eltern. Zuerst wandten sie sich nach Berlin, da sie verabredet hatten, sich dort zu treffen, "wenn alles vorbei wäre". Sie suchten dort unter anderem nach Salomon de Vries. Der war mit seiner nichtjüdischen Frau Mena und den drei Kindern 1940 freiwillig nach Berlin gezogen und für viele Leeraner Juden in Berlin im Laufe der Zeit "ein Link zur Außenwelt" geworden. Er hatte zeitweise auch die Post der Weinbergs weitergeleitet. Sie hofften, bei seiner Familie etwas über die Eltern zu erfahren. Doch in Berlin fanden sie keine Bekannten mehr, sondern überall nur noch Trümmer. Da die Weinberg-Geschwister vermuteten, dass Familie de Vries wieder nach Leer zurückgekehrt war, machten sie sich auch auf den Weg in ihre alte Heimat. Sie erhielten in Leer eine Wohnung in der Brunnenstraße 11 zugeteilt. Nach und nach erfuhren sie, dass nicht nur ihre Eltern den Holocaust nicht überlebt hatten, sondern dass auch ihre Onkel und Tanten umgekommen waren. Nur ihre Tante Maria Cohen und einige Cousins und Cousinen waren noch am Leben. Dieter, Friedel und Albrecht Weinberg standen jetzt praktisch vor dem Nichts wie so viele in dem desolaten Nachkriegsdeutschland. Da alle mit dem eigenen täglichen Überlebenskampf beschäftigt waren, konnten die Weinberg-Geschwister kaum Anteilnahme und Unterstützung erwarten. Obgleich sie von offiziellen Stellen freundlich und zuvorkommend behandelt wurden, wollten im Alltag viele Leute nichts von ihnen wissen. Die meisten waren verunsichert und wussten nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollten. Außerdem war der über ein Jahrzehnt lang propagierte Antisemitismus ja auch nicht über Nacht aus den Köpfen verschwunden. Nur mühsam gewöhnten sich die Weinberg-Geschwister wieder an ein "normales" Leben. "Im KZ reduziert man seine Instinkte und Begierden auf den Überlebenswillen", meinte Albrecht, "wir sind als halbe Kinder ins Lager hinein- und als Monster wieder herausgekommen." Die Bilder und Erlebnisse aus dem KZ sind über all die Jahre bis heute nicht aus ihrem Kopf verschwunden. Mit ihrem angeheirateten Vetter, dem Arzt Dr. Philipp Mayring aus Collinghorst, der mit Cousine Rosa Löwenstein aus Weener verehelicht war, besuchten Dieter und Albrecht noch einmal ihre alten Nachbarn Brunsema in Westrhauderfehn. Auch musste der jetztige Besitzer ihres früheren Hauses am Untenende, Harm Schaa, den Rest der Kaufsumme und die aufgelaufenen Zinsen noch bezahlen. Jedoch konnte man in den Zeiten des Tauschhandels und der "Zigarettenwährung" mit Bargeld nur wenig anfangen. Am 13. Oktober 1946 traf die Geschwister ein neuer Schicksalsschlag: Dieter Weinberg verunglückte tödlich im Breinermoorer Hammrich. Um seinen Tod ranken sich etliche Gerüchte. Laut Johannes Röskamp erlag er einem Herzschlag; Johann Korrelvink berichtet, dass er beim Angeln in das Sieltief gefallen und ertrunken sei. Beerdigt wurde Dieter Weinberg auf dem jüdischen Friedhof in Leer am Schleusenweg (Grab Nr. 227). Auf seinem Grabstein ist vermerkt, dass er ein Holocaust Survivor war. Nach Dieters Tod hielt Friedel und Albrecht Weinberg nichts mehr in Leer. Sie beschlossen, möglichst weit weg von Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Nachdem sie viele Monate auf gepackten Pappkoffern in Zeilsheim, einem DP-Lager in der Nähe von Frankfurt/Main verbracht hatten, wanderten sie nach New York aus. Die meisten ihrer überlebenden Cousins und Cousinen ließen sich in Holland nieder, ein paar auch in den USA. Cousine Ruth Heilbronn aus Lingen zog nach England und Vetter Arthur Grünberg aus der Reimerstraße wohnt heute in Australien. Schon in den frühen fünfziger Jahren weilten Friedel und Albrecht Weinberg ab und an bei ihren Verwandten in Holland. Nach Leer kamen sie 1985 und 1995 anlässlich der Einladung der überlebenden ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt. Bei diesen Gelegenheiten besuchten sie auch kurz Westrhauderfehn. Im Jahre 1996 endlich kamen sie auf Einladung der Gemeinde Rhauderfehn für eine Woche nach Westrhauderfehn. Sie wohnten während der Zeit in Leer. Albrecht und Friedel Weinberg legten Wert darauf, mit der Jugend ins Gespräch zu kommen. Sie diskutierten mit Realschülern in der Kreisrealschule Overledingerland und mit Jugendlichen vom Arbeitskreis Schule in Burlage. Sie beantworteten Fragen auf einer großen öffentlichen Informationsveranstaltung im Rathaus Rhauderfehn und folgten einigen Spuren ihrer Kindheit. So nahmen sie unter anderem an einer Einschulungsfeier in der Sundermannschule teil. Zwei Jahre später kamen Friedel und Albrecht Weinberg erneut aus New York angereist, um am 3. September 1998 im Beisein der Oldenburger Rabbinerin Lea Wyler und zahlreicher lokaler Prominenz in Westrhauderfehn auf dem Ehrenfriedhof an der 1. Südwieke einen Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft zu enthüllen. Am 7. März 2006 beschloss der Rhauderfehner Gemeinderat nach Rücksprache mit Friedel und Albrecht Weinberg, den Abschnitt des Hagiusrings, der am Ehrenfriedhof vorbeiführt, in "Geschwister-Weinberg-Straße" umzubenennen. Im Juli 2007 reisten sie zum dritten Treffen ehemaliger jüdischer Bürger nach Leer und beehrten anschließend noch einmal die Gemeinde Rhauderfehn mit einem einwöchigen Besuch. So gibt es zwischen den letzten beiden Fehntjer Juden und ihrem früheren Heimatort, der sie 1936 loswerden wollte, doch wieder versöhnliche Gesten. COHEN Die Cohens stammen aus den Niederlanden und waren schon im 18.Jahrhundert im Raum Oude Pekela ansässig. Dort wurde 1725 der spätere Schlachter Hartog Lazarus geboren, wahrscheinlich ein Sohn des Lesman Cohen. Er war verheiratet mit Esther Nochums (* ca. 1727 und + 29. 1. 1806 in Nieuwe Pekela), höchstwahrscheinlich eine Tochter von Nochum Daniels und Rachel Zadoks. Hartog konnte hebräisch schreiben und seine Frau Esther sogar hebräisch und niederländisch, wie aus Dokumenten hervorgeht. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Nochum Hartogs, Daniel Hartogs und Levie Hartogs. Hartog Lazarus starb am 23. 3. 1810 in Nieuwe Pekela. Der Sohn Nochum Hartogs (3/4 im Juli 1761 in Pekela und + 5. 1. 1827 in Oude Pekela) war von Beruf Schlachter und Kaufmann. Er heiratete Frouke Benjamins de Groot (* im Juli 1769 in Wildervank und + 6. 4. 1834 in Oude Pekela), Tochter von Benjamin Heijes und Roosje Mozes. Das Ehepaar wohnte in Oude Pekela und hatte sechs Kinder: Lazarus, Mozes, Daniel, Samuel, Lea und Maria. Der vierte Sohn, Samuel Nochums (3/4 12. 4. 1804 in Oude Pekela und + 28. 1. 1893 in Oude Pekela), war von Beruf "vleeshouwer", das heißt, er war nicht befugt, rituelle Schlachtungen vorzunehmen, sondern er durfte nur bereits geschlachtete Tiere verarbeiten. Er heiratete am 12. 10. 1830 in Oude Pekela Hendeltje Nochems de Levie (* im März 1808 in Oude Pekela und + 19. 5. 1888 in Oude Pekela), Tochter von Nochem Benjamins und Beile de Beer. Als Mozes Cohen allerdings auf dem Standesamt Rhaudermoor im Jahre 1907 den Tod seines Vaters Nochum anmeldete, gab er als Mädchennamen seiner Großmutter den Namen "Pinto" an. Samuel und Hendeltje wohnten in Oude Pekela. Sie hatten neun Kinder, von denen drei aber tot geboren wurden. Am Leben blieben Nochum, Frouke, Benjamin, Hartog, Baruch und Betje. Sie alle trugen jetzt den Familiennamen Cohen. Von den sechs Kindern wanderten zwei nach Preußen aus: Frouke (* 14. 6. 1836 in Oude Pekela und + 18. 1. 1904 in Rhaudermoor) und Nochum (* 28. 2. 1831 in Oude Pekela und + 1. 9. 1907 in Rhaudermoor). Nochum Cohen war wie sein Vater von Beruf auch "vleeshouwer" und dazu noch Kaufmann. Er konnte anscheinend in Oude Pekela kein Auskommen finden und versuchte, sich in den umliegenden Orten eine Existenz aufzubauen, denn er wechselte mehrfach seinen Wohnsitz. 1856 war er in Nieuwe Pekela gemeldet. Im selben Jahr, am 14.8.1856, heiratete er Flora de Vries (* 28. 8. 1836 in Winschoten und + 17. 2. 1870 in Oude Pekela). Die Hochzeit fand in Oude Pekela statt, doch 1861 wohnte das Paar in Winschoten. Als Flora 1870 starb, hielten sie sich in Oude Pekela auf, und 1871 zog Nochum nach Bellingwolde. Dort heiratete er am 11. 3. 1871 Sina Nathans, hier auch bekannt als Sientje Oppenheim (* 21. 1. 1839 in Boertange und + 22. 9. 1904 in Rhaudermoor). Sie war die Tochter von Mozes Nathans Oppenheim und Dina Telts Frank. Für Sientje war es auch die zweite Ehe. Sie hatte 1867 Simon de Pool geheiratet, doch diese Ehe muß ziemlich bald geschieden worden sein, denn Simon heiratete 1877 ein zweites Mal. Das Ehepaar Nochum Cohen und Sientje Oppenheim wohnte bis 1875 in Bellingwolde. Dort wurden auch ihre beiden Töchter Dina (* 5. 2. 1872 und + 25. 10. 1904 in Rhaudermoor) und Hendeltje (* 12. 7. 1873) geboren. Bei der Geburt des Sohnes Mozes (* 8. 11. 1875 und + 3. 2. 1934 in Rhaudermoor) wohnte die Familie wieder in Oude Pekela. In ihren ersten Ehen hatten beide keine Kinder gehabt. Sientje Nathans Oppenheim scheint eine dominante Frau gewesen zu sein, denn die erste Tochter aus ihrer Ehe mit Nochum Cohen hieß Dina und wurde nach Sientjes Mutter benannt und der einzige Sohn Mozes nach ihrem Vater. Die zweite Tochter Hendeltje erhielt den Namen von Nochums Mutter. In den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts wurden die Perspektiven für eine ausreichende wirtschaftliche Existenzgrundlage für die jüdischen Schlachter und Viehhändler im Raum der Pekela's immer schlechter. Zahlreiche Familien wanderten nach "Preußen", d.h. in das neue deutsche Kaiserreich aus. Dort waren die Juden de jure seit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 gleichberechtigt. 1879 entschlossen sich auch Nochum Cohen und Frau Sientje, mit ihren drei Kindern in Ostfriesland ihr Glück zu suchen. Die Initiative ging wahrscheinlich von Nochums Schwester Frouke Cohen und ihrem Ehemann Gumpel de Levie aus. Die hatten schon Verwandte in Ostfriesland: Gumpels Bruder Benjamin de Levie war bereits 1875 mit seiner Familie nach Stickhausen ausgewandert, und sein Bruder Salomon de Levie wohnte seit 1878 mit seiner großen Familie in Ihrhove und hatte sich dort schon ein Haus gekauft. Während Frouke und Gumpel de Levie mit ihrer großen halbflüggen Kinderschar sich anscheinend gleich in Rhaudermoor niederließen, wie aus dem Adressbuch von 1880/81 zu ersehen ist, haben Nochum und Sientje mit ihrer Familie angeblich zuerst in Ostrhauderfehn gewohnt, und zwar an der 1. Südwieke in dem Haus hinter Rösko Prahms Geschäft. Das erzählte jedenfalls mein Großvater Johann Hensmanns (* 5. 10. 1872 und + 30. 7. 1964). Er sei mit Mozes Cohen zur Schule gegangen, in die alte Schule neben dem Untenender Friedhof in Ostrhauderfehn. Auch die Namen der beiden Schwestern waren ihm geläufig. Sie waren in seinem Alter und sind wohl in der gleichen Klasse gewesen. Auch in späteren Jahren, als Erwachsene, kehrten mein Großvater und Mozes stets die alten Bekannten heraus, wenn sie sich trafen. Mozes fragte zum Beispiel: "Hest noch wat in Handel?" Johann entgegnete dann meistens: " Bloot Swien', ober dor deist du ja nich mit." So hat jedenfalls mein Vater Anton Hensmanns (* 27. 6. 1905 und + 7. 6. 1996) wiederholt berichtet. Die Tochter Hendeltje Cohen muss nach Beendigung ihrer Schulzeit als Dienstmädchen in Amsterdam gearbeitet haben, denn 1893, am 21. September, wurde dort ihr Sohn Hermann geboren, der auch 1894 noch in Amsterdam gemeldet war. Da er einen "deutschen" Vornamen trug, stammte sein Vater vielleicht aus Deutschland oder Hendeltje hatte einfach Gefallen an dem damals in Deutschland modischen Vornamen gefunden. Leider ist nicht mehr festzustellen, wann die Familie Cohen nach Rhaudermoor zog, da Meldebücher aus jenen Jahren nicht vorliegen. Im Hauptdebitoren-Buch des Westrhauderfehner Kaufhauses C.A.J. Hagius Sohn ist auf der Seite 609 zu lesen, dass ein Nathan Cohen aus der Rhauderwieke in den Jahren 1894 und 1896 dort Waren eingekauft hat, die er 1897 inklusive 5% Zinsen bezahlte. Da es keine zweite Familie Cohen auf dem Fehn gab, kann davon ausgegangen werden, dass Herr Nochum und Frau Sientje um diese Zeit schon in der Rhauderwieke wohnten. Im Jahre 1904 jedenfalls, als Frau Sientje (+ 22. 9.) und Tochter Dina (+ 25. 10.) innerhalb weniger Wochen starben, wohnten sie mit Sicherheit dort, denn auf dem Grabstein ist als Todesort Westrhauderfehn angegeben. Um diese Zeit muss Mozes auch geheiratet haben. Seine Frau, Klara Neumann (* 30. 12. 1880 in Stralsund), war die Tochter des Zigarrenfabrikanten Albert Neumann und der Laura geborene Posthausen aus der Ossenreyerstraße 42 in Stralsund. 1882/83 zogen die Neumanns von Stralsund weg. Wo und wann Mozes und Klara genau geheiratet haben, wissen wir nicht. Am 1. September 1907 starb auch Nochum Cohen. Er wurde wie seine Frau Sientje und Tochter Dina auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beigesetzt. Sein Grabstein ist während der NS-Zeit leider stark beschädigt worden, so dass die Schriftzeichen darauf nicht mehr zu erkennen sind. Frau Sientje und Dina bekamen einen gemeinsamen Grabstein, der in unmittelbarer Nähe zu finden ist. Nach dem Tode des Vaters Nochum war Mozes jetzt das Familienoberhaupt. Er bewohnte ein älteres Fehntjer Haus, das schräg gegenüber der Jürgenaswieke längs an der Rhauderwieke stand. Im Adressbuch des Landkreises Leer von 1910 wird er als Viehhändler in der Rhauderwieke aufgeführt und im Adressbuch von 1926 als Schlachter, das heißt, er hatte die Lizenz zu rituellen Schlachtungen. Er handelte überwiegend mit Kleinvieh, also mit Kälbern, Schafen, Lämmern und Geflügel, und er verkaufte auch Schaffleisch und Schafwolle, wie aus den Anzeigen im Generalanzeiger vom 16. 8. 1922 und vom 11. 6. 1924 zu ersehen ist. Die bestellten Portionen transportierte er in einem Korb, der vorne auf seinem Fahrrad befestigt war, wenn er seine Kunden belieferte. Auch wenn er zu den "kleinen Leuten" in der Rhauderwieke zählte und er für sein bescheidenes Einkommen unermüdlich tätig sein musste, besaß er doch ein eigenes Haus und blickte hoffnungsvoll in die Zukunft. Mozes und Klara Cohen hatten zwei Kinder, die beide in Rhaudermoor geboren wurden: Bianka (* 6. 11. 1906) und Walter Nochum (* 13. 9. 1910). Bianka wurde am 31. März 1913 unter der Verzeichnisnummer 88 in der Volksschule Rhauderwieke eingeschult. Registriert ist dort auch das Datum ihrer ersten Pockenschutzimpfung vom 6. 6. 1907. Als Beruf des Vaters ist "Händler" eingetragen. Auf einem Schulbild der Schule Rhauderwieke aus dieser Zeit sieht man Bianka mit einer weißen Haarschleife inmitten ihrer Klassenkameraden. Walter Cohen wurde am 26. April 1916 unter der Nummer 129 in das Schülerhauptverzeichnis der Volksschule Rhauderwieke eingetragen. Als Datum seiner ersten Pockenschutzimpfung ist der 6. 6. 1912 angegeben. Am 23. 3. 1921 wurde Walter laut Bemerkung im Schülerhauptverzeichnis zum Besuch der Privatschule in Westrhauderfehn entlassen. Die "Höhere Privatschule" in Westrhauderfehn war im Jahre 1908 als eine Art Vorschule des Gymnasiums und des Lyzeums gegründet worden. Solche Vorschulen gab es damals in vielen größeren Orten auf dem Lande, um den Kindern den beschwerlichen Weg zur höheren Schule oder gar die frühe Trennung von der Familie so lange wie möglich zu ersparen. Voraussetzungen für den Besuch einer solchen Einrichtung waren eine erfolgreiche Aufnahmeprüfung und die Zahlung eines monatlichen Schulgeldes. Die "Höhere Privatschule" in Westrhauderfehn wurde im Jahre 1924 in eine staatliche Gemeindemittelschule umgewandelt und ist heute unter dem Namen "Kreisrealschule Overledingerland" bekannt. Aus dem Jahre 1926 gibt es ein Foto von der Untertertia mit Konrektor Siebert. Leider sind nur die Namen von einigen wenigen Mädchen dieser Aufnahme überliefert. Der kleine Junge rechts neben dem Konrektor mit der Schülermütze und dem verschmitzten Lachen könnte Walter Cohen sein. Der pensionierte Schulleiter von Möhlenwarf und Hobbykünstler Heinrich Reents, der aus Ostrhauderfehn stammte und in den zwanziger Jahren auch diese Schule besucht hat, konnte sich unlängst noch an seinen Mitschüler Walter Cohen erinnern. Mozes Cohen hatte damals sicher Großes mit seinem Sohn Walter vor, der sollte es einmal besser haben als er. Ungeachtet dessen führte er ihn von der Pike auf in das Geschäft des Viehhandels ein. Ein Foto, aufgenommen um 1930 vor dem Plümerschen Gasthof "Deutsches Haus" in der Rhauderwieke, zeigt Vater Mozes und Sohn Walter inmitten von Viehhändlern und anderen honorigen Leuten. Walter Cohen war eine elegante Erscheinung, ein charmanter Gesprächspartner sowie ein ausgezeichneter Tänzer und deshalb in der damaligen Damenwelt sehr beliebt. Doch als 1933 die NS-Zeit begann, mussten alle Zukunftsträume begraben werden. Es blieb Walter schon fast gar nichts anderes mehr übrig, als in das Geschäft seines Vaters einzusteigen, denn von nun an waren jüdische und ehemals jüdische Menschen Einwohner zweiter Klasse, die kaum noch Perspektiven hatten. Für sie änderte sich bald der ganze Alltag. Bianka Cohen hatte zu dieser Zeit das Elternhaus bereits verlassen. Sie war 1933 schon 26 Jahre alt und arbeitete in Aurich. Sie wohnte in der Fockenbollwerkstraße 11 laut einer Liste des Ordnungsamtes der Stadt Aurich über die 1933 in Aurich wohnhaft gewesenen Juden. Sie meldete sich am 12. 6. 1933 nach Enschede/Holland ab. Dort wurde sie sesshaft und heiratete am 19. Dezember 1940 im Alter von 34 Jahren während der deutschen Besatzung Leopold de Leeuw (* 23. 6. 1888 in Enschede). Kinder hatten sie nicht. Von Enschede aus kamen sie über das Lager Westerbork nach Auschwitz, wo beide am 12. 10. 1942 umgebracht wurden. Mozes Cohen hatte schon vor der NS-Zeit Ärger mit den Behörden wegen seines Hauses. Es war schon älteren Datums und stand längs an der Straße mit der Giebelseite Richtung Westrhauderfehn. Auf einem Foto der Rhauderwieke von Heiko Athen um 1900 kann man nur die hohen Bäume vor dem Giebel erkennen, die den Blick auf das alte Haus selbst verdecken. Im Gebäude selbst war es wegen der dichten Baumkronen ziemlich dunkel. Therese Luikenga fürchtete sich als Kind immer ein wenig, wenn sie zu Cohens ins Haus kam und durch den düsteren Flur ging. In den dreißiger Jahren plante die Gemeinde Rhaudermoor, den heutigen Neuen Weg, damals "Zeegenstraat" genannt, der vom Deich kommend in der Nähe der Kleinbahnschienen nach Südwesten abbog und dem Verlauf der heutigen Bahnhofstraße folgte, bis zur Rhauderwieke in voller Breite zu verlängern, denn bis dato war hier nur ein Trampelpfad vorhanden, "Mozes-Otto-Weg" genannt. Just an dieser Stelle stand nun Mozes Cohens Haus im Weg. Die Gemeinde wollte ihm Haus und Grundstück abkaufen und plante, ein Enteignungsverfahren in Gang zu setzen, als er nicht dazu bereit war. Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, wurde auf die Rechte der einzelnen Bürger keine Rücksicht mehr genommen, erst recht nicht auf die Rechte eines jüdischen Bürgers. Nun ging alles sehr schnell. Schon im Oktober 1933 wurden die Arbeiten für den Ausbau ausgeschrieben. Mozes Cohen blieb nichts mehr übrig, als am Vormittag des 3. 2. 1934, einem Sabbat, seine Unterschrift unter einen Kaufvertrag zu setzen. Er war so verzweifelt, dass er sich am Nachmittag desselben Tages auf dem Dachboden seines Hauses umbrachte, bevor er es endgültig verlassen musste. Er sah sein Lebenswerk und seine Existenzgrundlage zerstört. Er hatte mit seinen knapp sechzig Jahren wohl keine Hoffnung mehr auf eine Perspektive für einen Neuanfang unter den herrschenden politischen Voraussetzungen. Als die Nachbarschaft davon erfuhr, waren alle sehr bestürzt. Selbst die Heimatzeitung brachte zwei Tage später eine kurze Meldung. Heinz Bergenthal erinnerte sich, dass die Nachbarn auch die Bergung des Leichnams übernahmen, da der Sohn Walter ja zu den Kohanim gehörte und aus rituellen Gründen nicht mit Toten in Berührung kommen durfte. Da Mozes Cohen am heiligen Sabbat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte, was in der jüdischen Tradition als schweres Vergehen gegen Gott angesehen wird, kamen bei seiner Beerdigung am 6. Februar 1934 eigens für diesen Anlass bestimmte Riten zur Anwendung: Mehrere Zeitzeugen berichten übereinstimmend, dass etliche Mitglieder der Trauergemeinde auf dem Weg zum Friedhof den Sarg an mehreren Stationen mit Reisigruten schlugen, zum Beispiel, als er vom Wagen in die Kleinbahn getragen wurde, sozusagen als Strafe für den Selbstmord. Mozes Cohen wurde auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt. Auf seinem Grabdenkmal sind die beiden segnenden Hände eingemeißelt, die daran erinnern sollen, dass er einer der Kohanim war, ein Nachfahre Aarons, und somit aus dem Priestergeschlecht stammte (Grab Nr. 226). Nach Mozes' Tod zogen Frau Klara und Walter Nochum in das Gumpertzsche Haus auf der anderen Seite der Rhauderwieke. Hermann Gumpertz hatte zu dieser Zeit Deutschland schon verlassen und war mit seiner Familie nach Holland geflüchtet. Walter versuchte, so gut es ging, das Viehhandelsgeschäft seines Vaters weiterzuführen. In den Jahren 1935/36 hatte er von dem Auktionator Conrad Graepel noch neun Hektar Weideland am Rajen gepachtet, das berichtete 1988 jedenfalls die ehemalige Angestellte des Auktionators, Dini Schustereit. Außerdem hatte Walter in Ostrhauderfehn eine Braut, Mimi Rull, die er nach den neuen "Nürnberger Gesetzen" zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 jedoch nicht mehr heiraten durfte, da sie keine Jüdin war. Aber die Geschäfte gerade der jüdischen Kleinviehhändler kamen mehr und mehr zum Erliegen. In einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung vom 20. 7. 1935 wurde die Bevölkerung noch einmal gezielt darauf aufmerksam gemacht, dass der Viehhändler Walter Cohen in der Rhauderwieke ein Jude sei, mit dem ein "Deutscher" keine Geschäfte machen sollte. Frau Klara und Sohn Walter muss jedenfalls nach und nach klar geworden sein, dass sich die Verhältnisse für sie in Deutschland so bald nicht bessern würden. Durch den Kontakt mit Tochter und Schwester Bianka aus Enschede gewannen sie sicherlich einen detaillierteren Einblick in die Hintergründe der deutschen Politik als es den meisten Einheimischen aufgrund der Gleichschaltung der Medien hier möglich war. Jedenfalls entschlossen sich Walter Cohen und seine Mutter Klara, nach Holland zu ziehen. Probleme mit einem Einreisevisum hatten sie nicht, denn sie besaßen beide die niederländische Staatsangehörigkeit. Trotzdem bedurfte es noch eines längeren "Papierkriegs", vor allem wegen der Devisensperre, wenn man legal ausreisen wollte. Klara Cohen meldete sich am 3. 9. 1937 nach Emmen/Holland bei der Gemeinde Rhaudermoor ab. Walter Nochum folgte ihr dorthin am 21.3. 1938, ein halbes Jahr vor der Pogromnacht am 9. 11. 1938. Der Taxenunternehmer Jakob Schuver aus Westrhauderfehn soll ihn mit einem Mietwagen bis zur holländischen Grenze gebracht haben. Ob er trotz der Devisensperre und der "Auswanderungsabgabe" von dem Cohenschen Hab und Gut noch ein wenig nach Emmen hinüberretten konnte, ist nicht bekannt. Während der NS-Besatzung wurde Walter Cohen wie seine Schwester Bianka und sein Schwager Leopold über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort am 30. 9. 1942 umgebracht. Ehemalige Bekannte aus dem hiesigen Raum, so erzählte mein Vater Anton Hensmanns immer wieder, sollen ihn in einem Waggon auf dem Abstellgleis an der Reimerstraße in Leer damals gesehen haben. Über das weitere Schicksal von seiner Mutter Klara Cohen geb. Neumann ist nichts bekannt. Sie ist anscheinend noch in Emmen gestorben. DE LEVIE Die de Levies aus unserem Raum stammen aus dem Gebiet von Oude und Nieuwe Pekela in den Niederlanden. Dort sind sie schon seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nachweisbar. Da der Familienname "de Levie" in den Pekela's sehr verbreitet war - wie heute noch überall auf der Welt in jüdischen Kreisen - hat man dort die verschiedenen Linien numeriert. Unsere de Levies gehören zur Linie I in Oude Pekela und zur Linie II in Nieuwe Pekela. Die Stammeltern unserer de Levies, Heiman (Chayyim) Levi und Frauke (Fieret) Hartogs wurden 1743 in Oude Pekela registriert. Sie waren angesehene Leute. Beide beherrschten die hebräische Schrift und Heiman zusätzlich die lateinische. Von Beruf war er Schlachter und Kaufmann und nannte ein Geschäft sein eigen. Von diesem Ehepaar sind zwei Kinder überliefert: Levi Haimans (* ca. 1729, + 1801) und Benjamin Haimans (* 11. 11. 1744, + 12. 2. 1828 in Oude Pekela). Levi war von Beruf auch Schlachter. Er war zweimal verheiratet. Die Kinder aus seiner ersten Ehe mit Frauke Hersels (+ ca. 1770) führten später den Familiennamen "van Zand", die Kinder aus der zweiten Ehe mit Beela Filippus (* ca. 1745, + 12.7. 1817 in Winschoten) nahmen den Familiennamen "van der Hak" an. Benjamin Haimans war auch zweimal verheiratet. Seine erste Frau, Rachel Daniels, starb schon vor 1788. Von seiner zweiten Ehe mit Rosijn Isaacs Levie (* 22. 3. 1763 in Veendam, + 1845 in Oude Pekela), geschlossen am 11. 9. 1788 in Oude Pekela, gibt es einen Ehevertrag. Wie sein Vater war Benjamin Haimans von Beruf Schlachter und Kaufmann. Aus seinen beiden Ehen gingen vierzehn Kinder hervor, die später alle den Familiennamen "de Levie" führten zusätzlich zu dem Patronymikon "Benjamins": Nochem, Frouke, Daniel, Beerendje und Leentje aus der ersten Ehe; Heiman, Hartog, David, Mozes, Hendeltje, Sara, Izak, Rebekka und Izak Aron aus der zweiten Ehe. Sohn Hartog Benjamins de Levie (* 6. 7. 1791 in Oude Pekela, + 7. 6. 1860 in Oude Pekela) war von Beruf Schlachter. Er heiratete am 15. 4. 1815 zu Oude Pekela Geertje Gompels Kosses (* 30. 12. 1794 in Oude Pekela, + 22. 12. 1883 in Oude Pekela). Auch ihre Vorfahren lassen sich bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Oude Pekela und mütterlicherseits in Neustadtgödens zurückverfolgen. Hartog und Frau Geertje haben anscheinend immer in Oude Pekela gewohnt, denn alle ihre acht Kinder wurden dort geboren, und sie selbst wurden beide dort begraben. Als die Kinder Jakob, Roosje, Ester, Rebekka, Gompel/ Gumpel, Benjamin, Salomon und Hinderika erwachsen waren und eigene Familien gegründet hatten, gab es in ihrem Heimatort Oude Pekela keine wirtschaftliche Perspektive mehr für alle. Deshalb beschlossen die drei jüngsten Söhne, die schon alle drei eine stattliche Kinderschar hatten, nach "Preußen" ins benachbarte Ostfriesland auszuwandern, denn in dem neuen deutschen Kaiserreich gab es für Juden keine gesetzlichen Beschränkungen mehr. Gleichzeitig waren durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes in den Orten mit einer Bahnstation neue Zentren entstanden und die Welt war durch dieses schnelle und bequeme Transportmittel sehr viel "kleiner" geworden. Für Geschäftsleute und vor allem für Viehhändler gab es plötzlich ganz neue Perspektiven. In Leer entstand um diese Zeit ein überregionaler wöchentlicher Viehmarkt und viele Bewohner von den Pekela's sahen im benachbarten Ostfriesland eine gute Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen. So auch die de Levie-Brüder. 1875 machte sich Benjamin de Levie mit Frau Geertje Meiberg und seinen fünf zum Teil schon erwachsenen Kindern zuerst auf den Weg. Er nahm seinen Wohnsitz in Stickhausen. Etwa 1878 muss auch Salomon de Levie mit seiner Familie aufgebrochen sein. Er wählte Ihrhove als Wohnsitz. 1879 zog schließlich auch Gumpel de Levie mit seiner Familie ins benachbarte Ostfriesland. Er ließ sich in Rhaudermoor nieder, in der Rhauderwieke, hart an der Grenze zu Westrhauderfehn. Hier gab es damals zwar noch keinen Bahnanschluss wie in Stickhausen und Ihrhove, doch es bestand eine tägliche Pferdeomnibusverbindung nach Ihrhove, und es bildete sich in diesem Ort ein neues Zentrum für die sich ständig vergrößernden Fehngemeinden und die Bauerndörfer im Umfeld. Für Geschäftsleute mit Weitblick war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch hier ein Bahnanschluss kommen würde. Gumpel/ Gompel de Levie (* 1. 2. 1827 in Oude Pekela) war nach seinem Großvater mütterlicherseits, Gompel Jacobs Kosses, benannt. Er hatte am 3. 1. 1857 in Oude Pekela Frouke Cohen (* 14. 6. 1836 in Oude Pekela), die Schwester von Nochum Cohen, geheiratet, der sich im gleichen Jahr mit seiner Familie auf den Weg ins benachbarte Ostrhauderfehn machte. Gumpel de Levie und Frouke geb. Cohen hatten zwölf Kinder, die alle in Oude Pekela das Licht der Welt erblickten. Drei von ihnen waren allerdings schon im Säuglings- bzw. im Kleinkindalter verstorben: Hartog (* 2. 5. 1857, + 12. 3. 1858 in Oude Pekela), Hendeltje (* 23. 4. 1858), Geertje (* 10. 7. 1859), Samuel (* 8. 12. 1860, + 18. 3. 1862 in Oude Pekela), Hartog (* 31. 10. 1862), Betje (* 25. 4. 1864), Samuel (* 7. 1. 1866), Hinderika (* 12. 6. 1867), Flora (* 23. 1. 1870), Roosje (* 29. 12. 1871), Sientje (* 18. 3. 1874) und Benjamin (* 22. 5. 1876, + 31. 7. 1876 in Oude Pekela). Als die Familie nach Rhaudermoor zog, wohnten die drei ältesten Töchter schon nicht mehr im Elternhaus, sondern arbeiteten als Dienstmädchen in Groningen: Hendeltje und Geertje seit 1875 und Betje seit 1877. Hendeltje hatte vorher auch schon ein Jahr in Winschoten gearbeitet. Desungeachtet betrachteten diese jungen Frauen die neue Heimat ihrer Eltern und jüngeren Geschwister auch als ihr Zuhause. Sie wohnten dort zwischenzeitlich für einige Zeit und heirateten größtenteils auf dem Standesamt in Rhaudermoor. Die beiden Söhne Hartog und Samuel waren im Teenageralter, als die Familie in Rhaudermoor ansässig wurde. Sie werden ihren Vater Gumpel bei seinen Geschäften in der fremden Umgebung sicherlich schon kräftig unterstützt haben. Im Einwohnerverzeichnis von Ostfriesland von 1880/81 ist Gumpel de Levie schon als Schlachter in der Rhauderwieke aufgeführt. Er muss als Viehhändler einen guten Ruf gehabt haben, denn in einer Anzeige vom 27. November 1901 im Generalanzeiger macht die Schlachterei der Gebrüder Klock Reklame damit, dass in ihrem Laden eine "von G. de Levy gekaufte junge fette Queene" zur Schau aushängt. Gumpel de Levie muss gleich in dem ersten Haus hinter Dupree gewohnt haben, denn später gehörte es seinem Sohn Samuel, von dem es in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts der Mann seiner Enkelin Adele Meyer, Hermann Gumpertz, übernahm. Heute befindet sich an der Stelle das ehemalige Stammhaus des Möbelhauses Wilts. Gumpel de Levie muss geschäftlich eng mit seinem Bruder Salomon de Levie aus Ihrhove zusammengearbeitet haben. Dieser hatte in den Jahren 1892 und 1893 von dem Kaufmann Conrad Philipp Graepel laut dessen Steuerbuch diverse Stücke Weideland in Rajen und Rhaudermoor gepachtet, die offensichtlich von Gumpel de Levie und seinen Söhnen genutzt wurden, denn von Ihrhove lagen sie viel zu weit entfernt. Ab 1894 übernahm dann auch Gumpels Sohn Samuel die Pacht dieser Ländereien und noch einiger anderer Stücke dazu. Dieser muss ab Mitte der 1890er Jahre mehr und mehr die Verantwortung für den Betrieb übernommen haben, denn im Debitoren-Hauptbuch des Kaufhauses C.A.J. Hagius aus Westrhauderfehn ist auf Seite 949 zu lesen, dass der Schlachtermeister S. de Levie aus der Rhauderwieke dort ab 1897 mehrfach Waren eingekauft hat, die er bis Juni 1899 endgültig bezahlte. Ansonsten ist von Gumpel und Frouke de Levie nicht viel bekannt. Ob er bei der Bezirksregierung in Aurich einen Antrag auf Naturalisation gestellt hat wie seine Brüder Benjamin und Salomon, wissen wir bisher nicht. Am 18. 1. 1904 starb Frouke de Levie geb. Cohen in Rhaudermoor. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Leer am Schleusenweg beigesetzt (Grab Nr. 179). Auf ihrem Grabstein wird als Todesort "Westrhauderfehn" angegeben. Das liegt daran, dass das Geschäftszentrum Untenende / Rhauderwieke gern als Einheit betrachtet und als "Fehn" bezeichnet wurde. Das ist auch heute noch so. Nachdem Frau Frouke gestorben war, wurden zeitweise junge Verwandte als Haushaltshilfen beschäftigt, wie es damals üblich war, zumal die verheirateten Töchter alle ihre eigenen Familien zu versorgen hatten und Sohn Samuel unverheiratet war und sich auch später nicht verehelichte. Bis zum 10. 1. 1907 half Julchen Müller aus Emden, die Stieftochter von Gumpels Tochter Geertje, laut Einwohnermelderegister im Haushalt bei ihren Verwandten in der Rhauderwieke aus. Ihre Nachfolgerin war die ledige Köchin Sophie Meyer aus Sögel, eine junge Verwandte von Gumpels Tochter Betje. Sie meldete sich am 2. 3. 1907, aus Duisburg kommend, in Rhaudermoor an und verzog am 27. 7. 1907 nach Sögel. Während ihres Aufenthalts verstarb Gumpel de Levie am 14. 4. 1907 in Rhaudermoor. Er wurde zu seinem Geburtsort Oude Pekela überführt und dort auf dem Friedhof beigesetzt (Grab Nr. 76). Auch auf seinem Grabstein ist als Todesort "Westrhouderfehn" angegeben aus den bekannten Gründen. Während der Jahre, die Gumpel und Frouke de Levie in der Rhauderwieke verbrachten, hatte sich ihr Wohnort gewaltig verändert: Die ev.-luth. Kirche hatte einen Turm bekommen, auf den die Fehntjer mächtig stolz waren, weil er zu den höchsten in Ostfriesland zählte; von Collinghorst bis ins Oldenburgerland war eine gepflasterte Chaussee gebaut worden; das kaiserliche Postamt hatte am Untenende ein imposantes Gebäude erhalten; das Geschäft C.A.I.Hagius Sohn war zu einem Kaufhaus mit städtischem Flair ausgebaut worden; der Arzt Dr. Trepte hatte sich eine neuzeitliche Praxis eingerichtet und benutzte für seine Krankenbesuche eine "Benzinkutsche". In der 1. Südwieke war eine mehrgeschossige Seefahrtsschule errichtet worden, die Offiziere auf kleiner Fahrt ausbilden konnte, und ein Kleinbahnanschluss für Westrhauderfehn war in der konkreten Planung. In Leer war 1885 in zentraler Lage an der Heisfelder Straße eine neue Synagoge erbaut worden, geräumig genug, um die rasch wachsende jüdische Gemeinde aufzunehmen. Nach dem Tode seines Vaters Gumpel führte Samuel de Levie das Geschäft alleine weiter. Er ist im Adressbuch des Landkreises Leer von 1910 als Viehhändler in der Rhauderwieke aufgeführt. Im Jahre 1913 kaufte er einen der Anteilscheine, die vom Männer-Turnverein Westrhauderfehn e.V. zur Errichtung eines Fonds für den Bau einer Turnhalle vergeben wurden, wie aus einer Liste des Vereins TuRa 07 hervorgeht. Über seinen Alltag während der Zeit des ersten Weltkrieges erfahren wir nichts; wir wissen auch nicht, wer ihm den Haushalt geführt hat, denn ein Einwohnermelderegister aus dieser Zeit ist nicht vorhanden. Er muss um diese Zeit schon gekränkelt haben, denn gleich nach Kriegsende, im Jahre 1919, gab er das Viehhandelsgeschäft höchstwahrscheinlich auf. Zu ihm ins Haus zog seine Nichte Adele geborene Meyer, eine Tochter seiner Schwester Betje aus Sögel. Adele hatte am 7. 11. 1919 den Weltkriegsteilnehmer Hermann Gumpertz aus Holten geheiratet, und der eröffnete in der Rhauderwieke einen Fell- und Lederwarengroßhandel mit Werkstatt und etlichen Angestellten. Samuel de Levie verbrachte die letzten Jahre seines Lebens mit der Familie seiner Nichte Adele. Er starb "nach langem schweren Leiden", laut Todesanzeige im Generalanzeiger, am 31. 8. 1924 im Alter von nur 58 Jahren in Rhaudermoor und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt (Grab Nr. 202). Auch auf seinem Grabstein ist als Todesort "Westrhauderfehn" angegeben. Über den Verbleib des ältesten Sohnes Hartog de Levie ist nichts bekannt. Er scheint von Rhaudermoor weggezogen zu sein, als er erwachsen war. Wir wissen nur, dass er als achtzigjähriger Mann im Lager Westerbork interniert und von dort ins Vernichtungslager Sobibor deportiert wurde, wo er am 16. 4. 1943 umgebracht wurde. Über die beiden Töchter Hendeltje und Hinderika de Levie erfahren wir auch nichts weiter. Sie haben nicht in Rhaudermoor geheiratet wie ihre übrigen Schwestern. Wahrscheinlich haben sie sich in Holland niedergelassen. Die Tochter Geertje de Levie muss seit dem Sommer 1891 bei ihren Eltern in Rhaudermoor gewohnt haben, denn am 2. 10. 1891 gebar sie dort einen Sohn, der den Namen Hartog erhielt. Die Hebamme Talena Hagedorn meldete ihn am 7. Oktober auf dem Standesamt in Rhaudermoor an. Am 22. 9. 1894 heiratete die Haustochter Geertje de Levie in Rhaudermoor den Schumachermeister Moritz/ Moses Müller aus Emden. Trauzeugen waren Geertjes Vater Gumpel und Moritz' Bruder, der Uhrmacher Simon Müller aus Rhaudermoor. Der hatte sich am 17. August 1873 in Rhaude von Pastor Stellwagen taufen lassen und war mit Taalke Buscher verheiratet. Durch seine Vermittlung hatte sich das Brautpaar wahrscheinlich kennengelernt. Moritz Müller war Witwer und kam gebürtig aus Loga (* 3. 5. 1853). Er wohnte laut Adressbuch der Stadt Emden von 1887 in der Spiegelstraße 2 und war in erster Ehe mit Karoline Bamberger (* 5. 4. 1849 in Emden, + 28. 10. 1892 in Emden) verheiratet gewesen. Sie hatten sechs gemeinsame Kinder, von denen fünf noch am Leben waren: Flora (* 26. 10. 1877 in Leer), Adolf Aron (* 29. 12. 1878 in Leer), Hanna (* 28. 5. 1880 in Emden, + 1937 in Hamburg), Max (* 26. 12. 1882 in Emden, + 9. 2. 1884 in Emden), Julchen (* 17. 7. 1890 in Emden) und Karl (* 28. 10. 1892 in Emden). Da Karl am Todestag seiner Mutter Karoline geboren wurde, ist anzunehmen, dass diese im Kindbett verstarb und Karl nach ihr benannt wurde. Geertje de Levie brachte ihren Sohn Hartog mit in die Ehe. Der erhielt laut Verfügung des Regierungspräsidenten zu Aurich vom 11. März 1898 die Erlaubnis, den Familiennamen Müller zu führen. Später nannte er sich Hartwig Müller und war von Beruf Schleifer. Er heiratete 27. 3. 1913 in Aschendorf Hiskea Johanna Frey (* 28. 3. 1890 in Völlenerkönigsfehn). Sie war die Tochter der Eheleute Eike Abben Frey und Metta geb. Pruin und gehörte der reformierten Konfession an. Das Paar wohnte in der Kleinen Deichstraße 24 in Emden und hatte vier Kinder: Gretchen Meta (* 30. 5. 1914 in Emden), Meta Anna (* 25. 9. 1918 in Hinte), Hedwig Henriette (* 22. 10. 1928 in Emden) und Hilde Johanna (* 15. 10. 1931 in Emden). Laut einer amtlichen Liste vom 12. 4. 1940, auf der "Mischehen" registriert wurden, lebte damals auch noch die Enkelin Helga (* 1. 3. 1938 in Emden), das Kind der Tochter Meta, bei ihnen im Haushalt. Hartog/Hartwig Müller starb am 19. 11. 1940 im KZ Dachau (Reg.-Nr. 1169/ Standesamt Dachau). Frau Hiskea verstarb am 6. 5. 1982 hochbetagt in Emden. Geertje und Moritz Müller hatten noch zwei gemeinsame Kinder: Max Müller (* 21. 2. 1896 in Emden, + 18. 5. 1974 in Emden) und Gottfried Müller (* 19. 10. 1897 in Emden, + 16. 2. 1943 in Auschwitz). Max Müller heiratete am 23. 10. 1920 Renske Peterke Schipper. Sie stammte gebürtig aus Warsingsfehn und gehörte nicht der mosaischen Religion an. Das Paar wohnte laut des Einwohnerbuches der Stadt Emden von 1934 in der Graf-Enno-Straße 18. Den Eheleuten wurden sechs Kinder geboren, von denen die Zwillinge die ersten Wochen leider nicht überlebten: Max Heinrich (* 10. 3. 1921 in Emden), Gerda Hinriette (* 1. 6. 1922 in Hinte), Hinrich Bernhard (* 16. 7. 1927 in Emden), Auguste Johanna (* 26. 11. 1929 in Emden / + 28. 11. 1929 in Emden), Bernhard Hartwig (* 26. 11. 1929 in Emden / + 28. 1. 1930 in Emden) und Adolf Fritz (* 1. 6. 1931 in Emden). Am 8. 2. 1936 verstarb Frau Renske in Emden. Max Müller wohnte laut einer amtlichen Liste der Stadt Emden vom 12. 4. 1940 jetzt mit seinen Kindern in der Graf-Johann-Straße 23. Weil Max Müller in einer "Mischehe" verheiratet gewesen war, brauchte er seinen Heimatort jetzt noch nicht zu verlassen wie die meisten übrigen jüdischen Ostfriesen. Dieses Schicksal ereilte ihn erst gegen Ende des Krieges, denn am 23. 2. 1945 wurde er noch in das KZ Theresienstadt deportiert. Glücklicherweise überstand er die NS-Zeit bis zur Befreiung im April 1945. Nach seiner Rückkehr heiratete er am 21. 6. 1947 in Emden Frau Helene geb. Pels. Sie war die Tochter von Nachmann Simon Pels und Johanna geb. van Dam und stammte auch gebürtig aus Emden. Sie hatte auch den Holocaust im KZ Theresienstadt überlebt, wohin man sie 1944 von Hannover aus deportiert hatte. Das Ehepaar wohnte zufolge der Adressbücher der Seehafenstadt Emden von 1956, 1959, 1964 und 1969/70 in der Klunderburgstraße 4. Max Müller war als Kassenbote tätig, bis er Anfang der sechziger Jahre- nach Frau Helenes Tod am 5. 7. 1960 - in Rente ging. Gottfried Müller war Schlachter und wohnte und arbeitete in den Jahren 1920/21 für einige Zeit in Rhaudermoor im Betrieb seines Onkels Samuel de Levie und seines angeheirateten Vetters und späteren Schwagers Hermann Gumpertz. Am 4. 3. 1921 meldete er sich auf dem Einwohnermeldeamt Rhaudermoor nach Emden ab. Gottfried heiratete Erna Gumpertz (* 21. 9. 1895 in Holten), eine Schwester von Hermann Gumpertz. Sie wohnten in Emden in der Wilhelmstraße 40. Am 24. 2. 1927 wurde ihr Sohn Paul geboren. Gretchen Deters geb. Kuipers, die in den 1920er Jahren eine Zeitlang Kindermädchen im Hause Gumpertz war, konnte sich an diese Emder Verwandtschaft noch gut erinnern. Das Ehepaar Gottfried und Erna Müller wurde gemeinsam mit Sohn Paul mit dem Transport am 14. 2. 1940 nach Berlin/Prenzlauerberg zwangsumgesiedelt. Von dort deportierte man sie mit einem Transport des Reichs-Sicherheitshauptamtes am 29. 1. 1943 nach Auschwitz. Im Archiv der Gedenkstätte Auschwitz ist der 16. 2. 1943 als Todestag von Gottfried Müller verzeichnet. Schumachermeister Moritz Müller verstarb am 12. 11. 1910 in Emden (Reg.-Nr. 320/120 Standesamt Emden I), seine Frau Geertje geb. de Levie schloss am 5. 2. 1933 in Emden für immer die Augen (Reg.-Nr. 39/1933 Standesamt Emden I); sie musste glücklicherweise die unheilvolle Entwicklung während der NS-Zeit nicht mehr miterleben. Gumpel und Frouke de Levies jüngste Tochter Sientje verheiratete sich ebenfalls nach Emden. Sie schloss am 21. 5. 1898 in Rhaudermoor mit dem Handelsmann Moritz Italiener die Ehe. Er wurde am 24. 4. 1872 als Sohn von Jacob Italiener und Friederike Driels in Emden geboren. Trauzeugen bei der Heirat waren Sientjes Vater Gumpel und der Handelsmann Isaak Frank aus Meppel/Niederlande. Das Paar ließ sich in Emden nieder. Laut Einwohnermeldeverzeichnis von 1934 wohnten sie in der Großen Deichstraße 19. Moritz Italiener arbeitete seinerzeit bei der Eisenbahn. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Friederike (* 21. 1. 1899 in Emden), Frieda (* 7. 3. 1900 in Emden) und Jacob (* 30. 4. 1902 in Emden). Der Sohn wurde nach seinem Großvater väterlicherseits benannt, die beiden Töchter erhielten die Namen ihrer Großmütter. Jacob Italiener war 1940 laut einer amtlichen Liste noch ledig und wohnte bei seinen Eltern. Er wurde vom Amtsgericht Emden offiziell für tot erklärt. Als Todesdatum wird der 8. 5. 1942 angegeben. Daraus muss geschlossen werden, dass er umgebracht wurde. Friederike und Frieda waren beide in einer "Mischehe" mit einem nichtjüdischen Ehepartner verheiratet und haben wohl dank dieses Umstandes den Holocaust überlebt. Friederike war zweimal verheiratet und wohnte später in Bremerhaven, wo sie am 20. 5. 1985 verstarb. Frieda hatte am 26. 3. 1921 Wilhelm Heinrich Janssen geheiratet. Das Paar wohnte in Emden, Große Burgstraße 8, und hatte zwei Kinder: Wilhelmine Martha (* 21. 10. 1921 in Emden) und Joseph Martin Moritz (* 14. 11. 1923 in Emden). Frau Frieda wurde am 23. 2. 1945 noch über Hamburg in das KZ Theresienstadt deportiert. Sie erlebte aber glücklicherweise bald das Ende der NS-Zeit und konnte zu ihrer Familie nach Emden zurückkehren, wo sie am 16. 11. 1980 hochbetagt verstarb. Sientje und Moritz Italiener sind während des Holocausts umgekommen, denn sie wurden beide auf Beschluss des Amtsgerichts Emden vom 27. 3. 1950 für tot erklärt. Moritz Italiener ist am 2. 12. 1941 in Sachsenhausen gestorben, das Amtsgericht Emden führt als Todesdatum den 31.(!) 4. 1942. Sientje Italiener geb. de Levie kam am 18. 10. 1941 im Ghetto Lietzmannstadt in Lodz um. Für sie hat das Amtsgericht Emden den 8. 5. 1945 als Todesdatum festgelegt. Weitere ausführliche Informationen zur Familie Italiener unter http://www.genealogie-kraemmer.de Flora de Levie heiratete am 6. 6. 1896 in Rhaudermoor den Junggesellen Philip Nerden (* 13. 4. 1870 in Amsterdam), Sohn des Diamantwerkers und Handelsmannes Eliazer Nerden und seiner Ehefrau Duifje Blitze aus der Rapenburgerstraat 77 in Amsterdam. Trauzeugen waren die Eltern der Braut, wobei auffällt, dass die Mutter in gewohnter patronymischer Manier mit ihrem Geburtsnamen F. Cohen unterschrieb. Flora und Philip Nerden hatten schon einen gemeinsamen Sohn Gottfried, der am 5. 12. 1888 in Rhaudermoor geboren wurde. Während der Heiratszeremonie erkannte Philip Nerden die Vaterschaft ausdrücklich an. Die junge Familie muss fortgezogen sein. Über ihren ferneren Lebenslauf und über weitere Kinder ist nichts bekannt. Roosje de Levie heiratete ebenfalls einen Sohn des Diamantenwerkers Eliazer Nerden und seiner Frau Duifje Blitze, nämlich Abraham Hartog (* 13. 7. 1879 in Amsterdam), allerdings nicht in Rhaudermoor, sondern wahrscheinlich in Charlottenburg ca. 1900/1901, denn am 21. 11. 1902 wurde dort ihre Tochter Dora Friederike geboren. Wie Hermann Adams in seinem Buch "Juden in Ihrhove" berichtet, war Abraham Nerden ein Kunsthandwerker, der seinen Lebensunterhalt als "Reisender" verdiente, wie man damals die Vertreter nannte. Im Jahre 1903 zog die Familie nach Ihrhove, und am 18. 2. 1905 wurde dem Ehepaar dort der Sohn Gustav Eduard geboren. Etwa um 1910 erwarb Abraham Nerden am Tjücher Weg zwei Grundstücke. Er baute darauf ein Haus und eröffnete eine Einrahmungswerkstatt und einen Leistengroßhandel. Als das Geschäft florierte, wurde nebenan ein größeres Haus mit einer Rampe erbaut und das andere Haus verkauft. Nachdem die Familie in Ihrhove heimisch geworden war, trat Abraham Nerden der altreformierten Kirche bei und wurde dort am 25. 10. 1908 getauft. Seine Frau Roosje und die Kinder blieben ihrem mosaischen Glauben treu. Am 26. 7. 1926 verstarb plötzlich die Tochter Dora nach kurzer schwerer Krankheit. Sie wurde auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt (Grab Nr. 204). 1933 erkannte die Familie Nerden sehr früh die Zeichen der Zeit. Haus und Grundstück wurden verkauft, und die Nerdens zogen nach Apeldoorn in Holland. Dort wohnten sie am Elsweg 57. Frau Roosje Nerden geb. de Levie verstarb am 26. 1. 1939 in Apeldoorn und wurde dort auf dem Friedhof beerdigt. Sohn Gustav Eduard heiratete am 13. 6. 1940 - schon während der deutschen Besatzung - in Amsterdam Rebecca Polak (* 5. 5. 1903 in Amsterdam). Alle wohnten jetzt in der Regentesslaan 20 in Apeldoorn bis zu ihrer Deportation ins Lager Westerbork. Abraham Hartog Nerden verstarb am 23. 4. 1943 im Vernichtungslager Sobibor. Gustav Eduard Nerden kam im KZ Auschwitz um, laut Rotem Kreuz am 5. 12. 1942, nach den Gedenkboeken des Herinneringszentrum Westerbork am 28. 2. 1943. Rebecca Nerden geb. Polak wird dort als "vermisst" geführt. Sie hat jedoch glücklicherweise den Holocaust überlebt und sich später in Holland wieder verheiratet. Im Jahre 1983 war sie in Ihrhove, dem Geburtsort ihres ersten Ehemannes Gustav Nerden, zu Besuch. Ihren Lebensabend verbrachte sie in Amsterdam. Betje de Levie heiratete am 15. 1. 1884 in Rhaudermoor den Handelsmann Meyer Meyer aus Sögel. Trauzeugen waren ihr Vater Gumpel und der Handelsmann B. Cohen aus Oude Pekela. Meyer Meyer (* 8. 11. 1853 in Sögel) stammte aus der prominenten Händlerfamilie Meyer in Sögel; seine Eltern waren der Handelsmann Jacob Meyer und Sophie geb. Rheine. Deren Grabsteine sind auf dem jüdischen Friedhof in Sögel vorhanden. Das junge Paar muss zuerst in Westrhauderfehn gewohnt haben, denn ihr erstes Kind, die Tochter Frauke, wurde am 15. 5. 1885 dort geboren. Kurze Zeit später sind sie nach Sögel gezogen, denn die übrigen zwölf Kinder kamen alle dort zur Welt: Jacob (* 26. 8. 1886), ein männliches Kind ohne Vornamen (* 8. 7. 1888, + 14. 7. 1888 in Sögel), Adele (* 11. 9. 1889, + 5. 7. 1892 in Sögel), Hermann (* 19. 4. 1891), Klara (* 12. 2. 1893), Hartwig (* 27. 1. 1895), Adele (* 21. 2. 1897), Carl (* 10. 6. 1899), Johanna (* 2. 5. 1901), Max (* 20. 7. 1903), Rosa (* 29. 3. 1905) und Sally (* 11. 5. 1908). Betje Meyer geb. de Levie nannte sich in Sögel Bertha. Unter diesem Namen ist wird sie dort auch in den Urkunden des Standesamtes geführt. Sie starb am 15. 11. 1934 in Sögel. Ihr Grabstein ist auf dem dortigen jüdischen Friedhof leider nicht mehr vorhanden. Ihr Ehemann Meyer Meyer war zu der Zeit wahrscheinlich noch am Leben, denn bei Bertha Meyers Sterbeeintrag im Standesamtsregister heißt es: "war verheiratet mit Meyer Meyer". Bei verwitweten Ehegatten wurde laut Standesbeamtin Kohne normalerweise "war verheiratet gewesen mit" eingetragen. Da kein Sterbeeintrag von Meyer Meyer im Sögeler Standesamtsregister zu finden ist, muss angenommen werden, dass er woanders gestorben ist. Von den Kindern ist anscheinend nur der Sohn Hermann in Sögel wohnhaft geblieben. Er heiratete am 9. 3. 1933 Ida Sanders (* 9. 1. 1901) in Wesel. Das einzige Kind des Ehepaares, Sally, wurde am 19. 11. 1938 in Sögel geboren. Die junge Familie wurde laut Transportliste von 1941/42 in ein Konzentrationslager deportiert. Auf Beschluss des Amtsgerichts Sögel vom 14. 12. 1963 (AZ. II 10/63) wurden Hermann Meyer und sein Sohn Sally für tot erklärt. Als Todesdatum wurde bei beiden der 20. 12. 1942 angegeben. Über das Schicksal von Frau Ida sind keine Angaben zu finden. Auf den Gedenktafeln des Friedhofs Sögel sind alle drei Namen aufgeführt. Der Sohn Hartwig Meyer fiel am 21. 7. 1915 im I. Weltkrieg. Sein Name ist auf dem Gedenkstein für die Gefallenen auf dem jüdischen Friedhof in Sögel aufgeführt. Der jüngste Sohn Sally hat den Holocaust überlebt. Er heiratete am 22. 2. 1955 zum zweiten Mal in Kaiserslautern. Über seine Ehefrauen ist nichts bekannt. Die Tochter Klara heiratete im Jahre 1937 in Duisburg, Standesamt Duisburg-Mitte (Reg.-Nr. 1647/1937). Der Name ihres Ehemannes ist nicht überliefert. Zwei Töchter, Adele und Frauke, heirateten in Sögel vom Elternhaus aus, und zwar zwei Brüder. Adele heiratete am 17. 11. 1919 den Kaufmann Hermann Gumpertz (* 13. 4. 1892 in Holten) und Frauke, die sich später Frieda nannte, heiratete am 15. 5. 1922 dessen Bruder Sally (* 6. 5. 1888 in Dörnigheim). Über den weiteren Lebensweg dieser beiden Familien wird in dem Kapitel "GUMPERTZ" berichtet. GUMPERTZ Die Gumpertz' stammen aus dem Rheinisch-Bergischen Raum. Joseph Gumpertz wurde 1823 in Nümbrecht/Westerwald geboren. Er heiratete am 6. 5. 1850 in Holten Esther Heymann. Ein anderer Gumpertz, Israel, der auch in die Heymann-Familie in Holten einheiratete, wurde 1828 in Deutz geboren. Ob die beiden Gumpertz' verwandt waren, lässt sich nicht nachweisen, ist aber wahrscheinlich. Seit dieser Zeit wohnten die Gumpertz' in Holten bei Oberhausen, und auch ihre Nachkommen haben sich in diesem Raum angesiedelt, so in Sterkrade und in Ruhrort. Joseph Gumpertz und Esther geb. Heymann hatten zwei Söhne: Gustav (* 17. 4. 1851 in Holten) und Siegesmund (* 4. 2. 1853 in Holten), außerdem hatte Frau Esther einen vorehelichen Sohn Daniel Heymann (* 13. 12. 1846 in Holten), der leider schon früh verstarb. Siegesmund Gumpertz war ein Fell- und Lederwarewnhändler. Er heiratete in erster Ehe Helene Schönfeld. Von ihr sind keine Daten bekannt. Sie stammte höchstwahrscheinlich aus dem Großraum Frankfurt, denn der erste Sohn Sally wurde am 6. 5. 1888 in Dörnigheim (Maintal) geboren, während die übrigen Kinder Hermann (* 13. 4. 1892), Erna (* 21. 9. 1895) in Holten zur Welt kamen. Nach dem Tode von Frau Helene heiratete Siegesmund Gumpertz in zweiter Ehe Bertha Sander (* 3. 10. 1867 in Breslau). Aus dieser Ehe ging der Sohn Julius (* 16. 10. 1901) hervor. Auch er wurde in Holten geboren. Als letztes Kind kam Helene zur Welt, von ihr ist kein Geburtsdatum überliefert. Es steht zu vermuten, dass sie den Namen der verstorbenen ersten Ehefrau erhielt. Sie wurde Leni gerufen. Sie wanderte rechtzeitig mit Ehemann und Tochter nach Australien aus. Siegesmund Gumpertz und Frau Bertha sind im Jahre 1935 während der NS-Zeit noch hochbetagt nach Holland ausgewandert oder geflohen, wahrscheinlich zu der Familie seines Sohnes Hermann. Beide kamen 1943 während der deutschen Besatzung in das Lager Westerbork. Während Bertha Gumpertz geb. Sander dort am 1. 4. 1943 verstarb (Nr. 101 Standesamt Westerbork), wurde Siegesmund noch im Alter von neunzig Jahren ins Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo er am 20. 4. 1943 umgebracht wurde. Die beiden Gumpertz-Söhne Sally und Hermann waren im I. Weltkrieg Soldat, und Julius nahm 1920 als Freiwilliger am Kampf der Reichswehrtruppen gegen die Rote Ruhrarmee teil und musste dabei am 2. 4. 1920 in Voerde sein junges Leben lassen. Die Söhne Sally und Hermann hatten später mit dem "Hurra-Patriotismus" nichts mehr im Sinn, denn sie engagierten sich in der SPD und im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Wie unzählige junge Leute ihrer Generation mussten sich Sally und Hermann Gumpertz nach Kriegsende im zivilen Leben wieder zurechtfinden. Sally hatte vor dem Krieg offenbar eine Ausbildung zum Bürokaufmann genossen, denn in dem Adressbuch des Landkreises Leer von 1926 wird er als Kaufmann in Westrhauderfehn geführt, und 1933 soll er laut Mitteilung eines entfernten Verwandten Prokurist bei Bamberg & Herz in Köln gewesen sein. Hermann Gumpertz hatte anscheinend in der Vorkriegszeit im Betrieb seines Vaters Erfahrungen im Produktenhandel gesammelt, denn eine Fell- und Ledergroßhandlung, wie sie die beiden Gumpertz-Brüder damals in Rhaudermoor eröffneten, konnte man nicht ohne Sachkenntnis führen. Warum ließen sich die beiden Brüder ausgerechnet in dem weit entfernten Rhaudermoor nieder? Nach dem I. Weltkrieg war das heimische Ruhrgebiet für eine Existenzgründung denkbar schlecht geeignet. Dort herrschte der Ausnahmezustand, und Teile der Reichswehr kämpften gegen die Rote Ruhrarmee. Eine Aussicht auf stabile Verhältnisse war nicht gegeben. Durch Bekanntschaft mit Mitgliedern der weitverzweigten Familie Meyer aus Sögel, die Verwandte in Ruhrort, Duisburg und Wesel hatten, lernte Hermann Gumpertz seine Braut Adele kennen. Sie brachte ihn wahrscheinlich zu ihrem Onkel, dem Viehhändler Samuel de Levie aus Rhaudermoor. Der war unverheiratet und wahrscheinlich auch kränklich und bot dem jungen Paar sicherlich an, zu ihm nach Rhaudermoor zu kommen und seinen Betrieb zu übernehmen. Sally und Hermann Gumpertz müssen schon kurz nach Ende des Krieges dorthin gezogen sein, denn als Hermann am 17. 11. 1919 in Sögel Adele Meyer (* 21. 2. 1897 in Sögel) heiratete, hatte er seinen Wohnsitz bereits in Rhaudermoor. Leider sind die Einwohnermeldeverzeichnisse von Westrhauderfehn und Rhaudermoor nicht komplett erhalten, so dass der genaue Zeitpunkt ihres Zuzugs nicht mehr festzustellen ist. Fest steht jedenfalls, dass Sally in Westrhauderfehn wohnte und nicht in Rhaudermoor, denn er meldete sich am 23. 5. 1921 dort ab nach Essen / Schornstraße. Zu diesem Zeitpunkt war er noch ledig. Mittlerweile hatten sich die Verhältnisse im linksrheinischen Raum und im Ruhrgebiet normalisiert, und Sally versuchte, in seiner Heimat beruflich Fuß zu fassen, denn der Betrieb in Rhaudermoor erschien wohl nicht geeignet, zwei Familien und dem ledigen Onkel Samuel de Levie ein angemessenes Auskommen zu sichern. Am 15. 5. 1922 heiratete Sally in Sögel Frauke Meyer (* 15. 5. 1885 in Westrhauderfehn). Sie war die ältere Schwester seiner Schwägerin Adele. Das junge Paar muss zuerst in Sterkrade gewohnt haben, denn von dort kommend meldete Sally sich am 22. 3. 1923 wieder in Westrhauderfehn an. Im Jahre 1923 besetzten französische Truppen wegen ausbleibender Reparationszahlungen der deutschen Regierung das Ruhrgebiet. An geordnete wirtschaftliche Abläufe war dort jetzt nicht mehr zu denken. Außerdem begann 1923 auch die "Inflationszeit", die Kaufkraft der Reichsmark schwand von Tag zu Tag, gegen Ende des Jahres sogar von Stunde zu Stunde. Im November 1923 benötigte man 1 Billion Reichsmark, um ein Brot zu kaufen. Wer vom Lohn oder Gehalt leben musste, konnte bald seine Familie nicht mehr ernähren; gefragt waren Sachwerte oder stabile ausländische Währung. Der Tauschhandel wurde zum bestimmenden Faktor in der Wirtschaft. Für Sally Gumpertz war es jetzt attraktiv, erneut nach Ostfriesland zu ziehen und in den Fell- und Ledergroßhandel seines Bruders Hermann einzusteigen. Nachdem er bei Coob Schoemaker in der 1. Südwieke eine Wohnung gefunden hatte, kam auch seine Frau dorthin. Sie hatte sich zwischenzeitlich bei ihren Eltern in Sögel aufgehalten und meldete sich am 14. 6. 1923 unter dem Namen Frieda in Westrhauderfehn an. Dies geschah wohl in Anlehnung an ihre Großmutter, Frouke de Levie geborene Cohen, nach der sie benannt worden war und die im Familienkreis auch "Fredle" gerufen wurde. Am 18. 4. 1924 stellte sich Nachwuchs ein. Im jüdischen Gemeindezentrum in der Klosterstraße 81/82 zu Münster kam Tochter Ruth zur Welt und wurde unter der Nummer 735/1924 beim Standesamt Münster registriert. Da Frau Frieda schon Ende dreißig war, als sie ihr erstes Kind zur Welt brachte, hatte sie es vorgezogen, sich zur Entbindung in die Hände von Fachkräften zu begeben. Die glücklichen Eltern konnten ihre Tochter bald mit nach Hause nehmen und meldeten sie am 1. 5. 1924 auf dem Einwohnermeldeamt in Westrhauderfehn an. Die Firma Hermann Gumpertz & Co., wie sie im Adressbuch des Landkreises Leer von 1926 genannt wird, betrieb im Inflationsjahr 1923 einen weitverzweigten Tauschhandel. Es wurde nicht nur mit Fellen, Häuten und Wildwaren, Kaninchen und Eiern gehandelt, sondern auch mit Altpapier, wie in Anzeigen der damaligen Tageszeitungen zu lesen ist. Hermann Gumpertz bot dabei seinen Lieferanten "wertbeständige Zahlung" oder Tauschhandel an. Die Geschäftsbeziehungen reichten von Ostfriesland über den Raum Friesoythe bis nach Hamburg und Tönning in Schleswig-Holstein. Während dieser Zeit muss sich der Betrieb zu einem Unternehmen mit mehreren Angestellten entwickelt haben. Bernhard Brinkmann aus Rhaudermoor, der später ein Gemischtwarengeschäft gegenüber der Vereinswieke führte, absolvierte bei Gumpertz seine Ausbildung. Er berichtete, dass die Felle überwiegend bei Schlachtern in der Umgebung aufgekauft und von dem damaligen Spediteur Johann Plümer mit Pferd und Wagen abgeholt wurden. Gelagert wurden sie in einem Schuppen neben dem Hinterhaus, mit reichlich viel Geruch und etlichen Ratten, bis die Menge ausreichte, um einen Waggon von der Kleinbahn Ihrhove-Westrhauderfehn damit zu bestücken. Die Abnehmer waren meistens Gerbereien, von denen Gumpertz' dann oft wieder Leder bezogen, das im Vorderhaus an Sattler und Schuster verkauft wurde. Das Zubehör für ihre Werkstatt konnten diese Handwerker hier auch gleich erwerben. Neben der regelmäßigen Belieferung durch die hiesigen Schlachter füllte die Firma ihren Vorrat auch mit einzelnen Fellen auf, die von Privatleuten gebracht wurden. Hildegard Albert aus der Dr.-Leewog-Straße erinnert sich, dass Hermann Gumpertz ihr einmal ein Kaninchenfell für 25 Pfenning abkaufte. Neben dem Lehrling Bernhard Brinkmann wurde auch noch der Lehrling Adolf Voskamp ausgebildet. Conny Jacobs war als Reisender für die Firma Gumpertz & Co. tätig, und dann gab es dort auch noch einen Herrn Woltermann. Im Büro wurde ein Buchhalter beschäftigt; Anfang der dreißiger Jahre war das Hermann Meyer aus Holte, vorher soll Anton Heger aus Collinghorst dort gearbeitet haben. Während der Aufbauphase um 1920 hat sicherlich auch der Onkel Samuel de Levie noch sein Know-How und seine Handelsbeziehungen zu den Schlachtern und Landwirten mit in die Firma eingebracht, denn der Übergang vom Viehhandel zum Fell- und Ledergroßhandel vollzog sich wahrscheinlich gleitend. Bis zum 4. 3. 1921 war jedenfalls noch der Vetter seiner Frau Adele, der Schlachter Gottfried Müller aus Emden, im Hause Gumpertz wohnhaft und im Betrieb tätig, ebenso wie Max Meyer, Frau Adeles Bruder aus Sögel. Am 31. 8. 1924 starb Samuel de Levie nach längerer Krankheit. Mit einer Todesanzeige im Generalanzeiger lud Hermann Gumpertz in Namen der Familienangehörigen zur Beerdigung am 3. September vom Trauerhause in der Rhauderwieke aus nach Leer ein. Wie Günter Graepel berichtete, begleiteten die Trauergäste den Sarg in der Regel mit der Kleinbahn zum jüdischen Friedhof nach Leer am Schleusenweg. In den Jahren 1925/26 muss die Firma Hermann Gumpertz & Co. in Zahlungsschwierigkeiten gekommen sein. Ein drohender Konkurs wurde aber glücklicherweise durch ein Geschäftsaufsichtsverfahren über das Vermögen der Firma sowie über das persönliche Vermögen der beiden Inhaber Sally Gumpertz und Hermann Gumpertz abgewendet. Ein solches Geschäftsaufsichtsverfahren wurde zu Beginn des I. Weltkriegs geschaffen zum Schutze der Kriegsteilnehmer. Es entsprach unserem heutigen Vergleichsverfahren. Unter diese Regelung fielen auch Hermann und Sally Gumpertz, weil sie beide Weltkriegsteilnehmer gewesen waren. Zufolge des Öffentlichen Anzeigers zum Amtsblatt der Regierung Aurich vom 17. Juli 1926 wurde durch Annahme des Vergleichs am 3. Juni 1926 die Geschäftsaufsicht vom Amtsgericht Leer am 30. Juni 1926 aufgehoben. Die Firma, die die Erwerbsgrundlage für die Familien der beiden Gumpertz-Brüder und mehrerer Angestellten bildete, war noch einmal gerettet. Hermann Gumpertz und Adele geb. Meyer hatten drei Kinder, die alle in Rhaudermoor geboren wurden: Helene (* 1. 10. 1920) wurde nach Hermann Gumpertz' Mutter Helene Gumpertz geb. Schönfeld benannt und Beate (* 28. 7. 1925) offensichtlich nach Frau Adeles Mutter Betje oder Bertha Meyer geb. de Levie in Sögel. Am 12. 1. 1931 wurde Sohn Manfred geboren, doch er verstarb schon nach knapp zwei Monaten am 5. 3. 1931 in Rhaudermoor. Er ist wahrscheinlich auch auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt worden, doch die Grabsteine der Kindergräber dort sind in der NS-Zeit alle unleserlich gemacht worden, so dass man sie heute nicht mehr zuordnen kann. Solange die beiden Töchter noch klein waren, wurden sie von Gretchen Kuipers (später: verheiratete Deters) aus der Jürgenaswieke betreut. Sie war etliche Jahre als Kindermädchen im Hause Gumpertz und lernte auch viele Verwandte der Familie kennen. In Emden wohnte Hermann und Sallys Schwester Erna. Sie hatte sich Anfang der zwanziger Jahre mit Adeles Vetter Gottfried Müller verheiratet; ihr Sohn Paul kam am 24. 2. 1927 in Emden zur Welt. Einmal war Gretchen mit zu einer Hochzeit bei der Familie Meyer in Sögel, eine ganze Woche lang wurde damals gefeiert, und für jeden Tag gab es besondere Essensvorschriften. Am 20. 4. 1927 wurde Helene Gumpertz unter der Nr. 329 des Schülerverzeichnisses in die Volksschule Rhauderwieke aufgenommen. Dort steht auch vermerkt, dass sie am 27. 12. 1922 gegen Pocken geimpft wurde. Beate Gumpertz wurde Ostern 1932 unter Nr. 441 des Schülerverzeichnisses auch dort eingeschult. Als Geburtsort ist bei beiden Rhauderwieke eingetragen, was darauf hinweist, dass die Einwohner der Rhauderwieke es geflissentlich vermieden, als Einwohner von Rhaudermoor zu gelten. Der Beruf des Vaters Hermann Gumpertz ist in beiden Fällen mit Kaufmann angegeben. Leni und Ati - so wurden sie gerufen - hatten viele Spielkameraden in der Nachbarschaft und auch in der Schule. Johann Korrelvink, der bis 1927 im Haus nebenan wohnte, ging als kleiner Junge bei der Familie Gumpertz ein und aus. Korrelvinks sprachen zu Hause plattdeutsch, in Lenis und Atis Elternhaus wurde hingegen hochdeutsch gesprochen. Er erinnert sich, dass er einmal beim Spielen neben Gumpertz~~' Haus von einer Versandkiste fiel genau auf ein Brett mit einem rostigen Nagel, der sich in seine Stirn bohrte. Sally Gumpertz trug ihn daraufhin eilig auf dem Arm zur Praxis des Sanitätsrates Dr. Trepte auf der gegenüberliegenden Kanalseite. Besonders beliebt waren die Kindergeburtstage im Hause Gumpertz, denn Mutter Adele verstand es, daraus jedesmal ein besonders festliches Ereignis zu machen. Es gab eine richtige Geburtstagstorte mit Kerzen, was auf dem Fehn in jenen Jahren noch nicht üblich war. Noch heute kann man beim Betrachten etlicher Fotos die fröhliche, unbeschwerte Stimmung nachempfinden, die damals Dini Janssen, Ohlrich Dupr~ee, Johanne Falk, Berta und Lisa Witzack, Frieda Junior oder auch Sarene und Gerda Neemann sowie Ingeborg Kallhoff dort mit Leni und Ati zusammen verbreitet und genossen haben. Aus ihrer rheinländischen Heimat waren Sally und Hermann Gumpertz es wahrscheinlich gewohnt, sich auch gesellschaftlich zu engagieren. In Westrhauderfehn gab es den traditionellen Turnverein "TuRa 07", der viele prominente Fehntjer Mitglieder hatte. Die Turnerinnen und Turner, besonders die Ahlers' und Tautes, konnten sogar auf überregionaler Ebene Erfolge vorweisen. Auch Leni und Ati Gumpertz waren begeisterte Turnerinnen. Therese Luikenga geborene Schulna gehörte damals der gleichen Turngruppe an. Sie erinnert sich, dass Leni eines Tages ihre wunderschöne Haarspange verloren hatte und alle Turnerinnen sie gemeinsam wiedersuchten. Auf dem Erinnerungsfoto zum Abschluß des Vereinsturnfestes im Jahre 1932 anlässlich des 25jährigen Bestehens des Turnvereins können wir Leni Gumpertz in der dritten Reihe von unten inmitten ihrer Turngruppe entdecken. Laut Johannes Lücht stand sogar ein Barren neben Gumpertz' Haus. Maßgeblichen Anteil hatten die Brüder Gumpertz am Kauf, Transport und Aufbau der Baracke aus Sedelsberg, die auf dem Fehntjer Marktplatz als Turnhalle hergerichtet wurde und noch heute diese Aufgabe erfüllt. Nach dem I. Weltkrieg war das Fußballspiel in Deutschland populär geworden. Auch auf dem Fehn fanden sich junge Männer zusammen und gründeten unter Vorsitz von Sally Gumpertz den FC Preußen, der bald in Sportvereinigung umbenannt wurde. Schwerpunkte der Vereinsarbeit waren Fußball, Handball und Leichtathletik. Die Gebrüder Gumpertz gehörten bald zu den eifrigsten Förderern und ehrenamtlichen Helfern. Sie übernahmen zum Beispiel das Amt des Schiedsrichters und Betreuers. Hermann Gumpertz trainierte eine Zeitlang die Fußball-Herrenmannschaft. Im Protokollbuch des Vereins ist zu lesen, dass Sally Gumpertz in den Jahren 1924 und 1925 große Jugendleichtathletikwettkämpfe organisierte, an denen sich fast alle Schulen des westlichen Overledingerlandes beteiligten. Fast 800 erwachsene Zuschauer sollen auf dem Sportplatz die Wettkämpfe verfolgt haben. Die Schulräte Kunze aus Leer und Dr. Zeplien aus Weener nahmen höchstpersönlich die Siegerehrung vor und lobten seinen hervorragenden Einsatz. In Leer nahm Sally mit weiteren Vereinsmitgliedern 1925 auch selbst an einem Leichtathletikwettkampf teil, wobei er mit 8,26 m den dritten Platz im Kugelstoßen belegte und an dem zweiten Platz der 100-Meter-Staffel sicher auch einen Anteil hatte. Um die großen Unkosten decken zu können, die durch den Kauf und die Herrichtung der Turnhalle entstanden waren, gab der Verein TuRa 07 im Jahre 1929 Aktien zu 50 RM heraus, die mit 4% verzinst und später nach und nach wieder eingelöst werden sollten. Hermann Gumpertz erwarb auch einen solchen Anteilschein. Durch die Weltwirtschaftskrise waren die Finanzplanungen des Vereins aber zum Scheitern verurteilt. Denn als der Landkreis Leer im Jahre 1936 - als Hermann Gumpertz mit seiner Familie schon längst nach Holland geflohen war - dessen Aktie an TuRa 07 zurückverkaufen wollte und am 21. 1. 1936 sogar einen Pfändungsbeschluss gegen den Verein erwirkte, um auf diese Weise eine noch offene Gumpertzsche Krankenhausrechnung zu begleichen, war der Verein total überschuldet und zahlungsunfähig. Fast alle Eigner von Anteilscheinen hatten diese zwischenzeitlich schon ohne Gegenleistung zurückgegeben und auch auf die Rendite zugunsten des Vereins verzichtet. Da auch Hermann Gumpertz auf dieser illustren Liste der Fehntjer Prominenz aufgeführt war, aber nicht mehr verzichten konnte, weil er schon im Ausland war, kann man davon ausgehen, dass seine Familie zu den "oberen Zehntausend" gerechnet wurde. Es gab allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen den Gumpertz' und den übrigen prominenten Fehntjer Familien bei ihrem politischen Engagement. Während die bürgerlichen und intellektuellen Kreise auf dem Fehn eher konservativ waren, gehörten die Gumpertz-Brüder zur SPD und zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der "Kampforganisation" der Sozialdemokraten in der Weimarer Zeit. Sie waren nicht nur einfache Mitglieder, sondern arbeiteten aktiv im Vorstand und als Deligierte mit. Dieses Engagement resultiert wahrscheinlich zum einen aus der Tatsache, dass die Gumpertz 'aus einem großstädtischen Umfeld kamen, und es in den goldenen zwanziger Jahren dort unter jungen Leuten als schick galt, "links" zu sein. Weit gewichtiger ist aber zum andern sicherlich die Erkenntnis gewesen, dass im "Ernstfall" nur die liberalen und demokratischen Parteien wie die Deutsche Demokratische Partei, die Deutsche Volkspartei und eben die SPD bereit sein würden, für die parlamentarische Demokratie und damit für die Minderheitenrechte einzutreten. Die historische Entwicklung ab 1930 hat ihnen leider recht gegeben. Wie Frank Groeneveld im Jahre 1996 in seiner Chronik anlässlich des 50jährigen Jubiläums der SPD-Ortsvereine Ostrhauderfehn und Idafehn berichtet, vertrat Hermann Gumpertz zusammen mit dem Deligierten Noormann die Kreisverbände Leer und Weener bei einer überregionalen SPD-Konferenz am 11. Dezember 1931. Weiter kann man lesen, daß Genosse Gumpertz einen Pfingstausflug nach Klosterbusch organisierte. Der hat wohl hauptsächlich den Kindern gut gefallen, denn Rosa Schilling geborene Klock konnte sich noch gut daran erinnern. Auch Gendarmerie-Wachtmeister Tielker aus Collinghorst schrieb im Sommer 1934 in seinem Bericht an den Landkreis Leer, dass Hermann Gumpertz Mitglied des Reichsbanner war und die SPD auch geldlich unterstützte. Die "früheren SPD-Führer von Westrhauderfehn" sollen sogar alle Maßnahmen mit ihm besprochen haben. Davon berichtet auch Johannes Lücht, dessen Vater damals Reichsbanner-Vorsitzender in Westrhauderfehn war. Sally Gumpertz war 1. Schriftführer in der Westrhauderfehner Ortsgruppe des Reichsbanner. Als er am 29. 4. 1928 mit Frau Frieda und Tochter Ruth Westrhauderfehn verließ und nach München zog, wurde er von einer Abordnung der Ortsgruppe am Bahnhof in Westrhauderfehn verabschiedet. Der Volksbote, das hiesige Wochenblatt der SPD, berichtete darüber am 8. Mai 1928 und bedauerte, dass die Ortsgruppe durch den Fortzug des Kameraden Gumpertz einen zielbewußten und allzeit bereiten Mitarbeiter verlöre. Warum Sally Gumpertz sich am 27. 4. 1928 mit seiner Familie beim Einwohnermeldeamt in Westrhauderfehn mit neuem Wohnort München abmeldete, wissen wir nicht. Dass die Firma Hermann Gumpertz & Co. kein Betrieb mit großen Gewinnspannen war, lässt sich schon an dem Vergleichsverfahren 1926 ablesen. Vielleicht wurde Sally damals ein guter Arbeitsplatz in seiner Branche angeboten, denn in den Jahren 1925 bis 1928, während der "Stresemann-Ära", gab es infolge des Dawesplans einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland, der die Menschen wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blicken ließ. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte dann aber alle Zukunftsträume wieder zunichte. Von Sally und seiner Familie erfahren wir danach kaum noch etwas. 1933 soll er Prokurist bei der Firma Bamberg & Herz in Köln gewesen sein. Das letzte Lebenszeichen gibt es von Frieda/Frauke Gumpertz geb. Meyer vom 23. 12. 1938, denn an dem Tag hat sie eine Erklärung unterschrieben, dass sie ab 1. Januar 1939 den zusätzlichen Vornamen Sara führen muss gemäß § 2 der 2. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17. August 1938. Dies ist neben ihrem Geburtseintrag im Geburtsregister des Standesamtes Westrhauderfehn vermerkt. Dieser Vermerk wurde dann nach der NS-Zeit laut Verordnung vom 16. 2. 1948 am 17. 8. 1959 wieder gelöscht. Um die Jahreswende 1938/39 lebte Sally Gumpertz mit seiner Familie demnach noch in Deutschland. Bei der Firma Hermann Gumpertz & Co. hat sich die Weltwirtschaftskrise sicherlich auch auf die Bilanzen ausgewirkt, denn es gab ab 1929 von Jahr zu Jahr mehr Arbeitslose und damit schwindende Kaufkraft bei den kleinen Leuten und beim Mittelstand. Kaum jemand konnte sich noch einen Pelzmantel oder modische Lederstiefel leisten; andererseits hatten die Flickschuster viel zu tun, so dass der Ledergroßhandel durchaus noch Absatzmöglichkeiten hatte. Jedenfalls war die Firma Hermann Gumpertz & Co. 1933/34, als die Familie sich nach Holland absetzte, durchaus noch ein solventes Unternehmen, obwohl die damit befassten Behörden und Parteistellen damals verbreiten ließen, Hermann Gumpertz habe einen völlig maroden Betrieb hinterlassen und sich ins Ausland davongemacht, damit er wegen seiner Schulden nicht zu belangen sei. Da er sich gegen diese Verleumdungen nicht mehr wehren konnte, hat sich sein Image als Schuldenmacher bis heute hartnäckig in den Köpfen vieler Fehntjer gehalten. Was Hermann Gumpertz bewog, mit seiner Familie Deutschland zu verlassen, waren nicht seine Schulden, sondern die politischen Verhältnisse. Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Schon gleich im Februar 1933, nach dem Reichstagsbrand, gab es nach vorbereiteten Listen die ersten großen Verhaftungswellen unter den politischen Gegnern. Damit sie nicht durch eine Flucht ins Ausland der Verfolgung entkommen konnten, entzog man ihnen von Amts wegen die Reisepässe. Als Hitler dann durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. 3. 1933 befugt war, ohne den Reichstag zu regieren, wurde die "Gleichschaltung" in Angriff genommen: Juden und missliebige Personen wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt, KPD, SPD und Gewerkschaften wurden verboten und ihr Vermögen beschlagnahmt, alle übrigen Parteien, Verbände und Jugendgruppen lösten sich im Laufe des Jahres 1933 selbst auf oder wurden verboten, nur die Organisationen der NSDAP blieben übrig. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wurden in der Deutschen Arbeitsfront zusammengefasst, Juden konnten nicht Mitglieder werden. Künstler und Intellektuelle mussten in die Reichsschrifttumskammer eintreten, auch hier war kein Platz für Juden. Die Medien wurden zensiert und ganz in den Dienst der neuen Machthaber gestellt, es wurde eigens ein Propagandaministerium dafür geschaffen. Auch hier in Ostfriesland gab es bald die ersten Opfer der NS-Regierung: Prominente SPD-Lokalpolitiker wie Wilhelmine Siefkes und Louis Thelemann aus Leer, sowie Hermann Saul aus Heisfelde wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, andere wie Ippe Oltmanns aus Bunde, Karl Mohrmann aus Rajen und Friedrich Geerdes aus Leer wurden strafversetzt. Der SPD-Reichstagsabgeordneter Hermann Tempel aus Leer und der Herausgeber des Volksboten, Hans Mozer aus Emden, flohen nach Holland, weil sie per Haftbefehl gesucht wurden. Selbst in Holterfehn und Idafehn gab es nachts Razzien bei KPD-Mitgliedern. Da Hermann Gumpertz schon jahrelang zur Lokalprominenz der SPD und des Reichsbanner "Schwarz-Rot-Gold" gehört hatte und außerdem noch Jude war, schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis man ihn auch "abholte". Seinen gültigen Reisepaß, der ihm 1930 vom Landkreis Leer ausgestellt worden war, hatte der Gendarmerie-Wachtmeister Tielker aus Collinghorst ihm schon abgenommen. Dass er damals die politische Entwicklung klar erkannte, bestätigt auch Johann Korrelvink. Er erinnert sich, dass sein Vater im Sommer 1933 nach einem Besuch bei seinem ehemaligen Nachbarn Gumpertz sich dahingehend äußerte. Ob am 1. April 1933 anlässlich der Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte in ganz Deutschland auch vor Gumpertz' Haus in der Rhauderwieke SA-Posten aufmarschierten, um etwaige Käufer abzuschrecken, ist nicht überliefert. Tatsache ist jedoch, dass sich seine Skatfreunde ziemlich bald von ihm abwandten und auch die Mitglieder des Sportvereins sich unter irgendwelchen Vorwänden nach und nach zurückzogen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Familie Gumpertz gegen Ende des Jahres 1933 nicht mehr darauf hoffen konnte, dass sich die politischen Verhältnisse in Deutschland bald wieder ändern würden. Sie zog die Konsequenzen und wagte einen Neuanfang im Nachbarland Holland. Wann genau die Familie Gumpertz die Grenze nach Holland überschritt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, da sie sich beim Einwohnermeldeamt in Rhaudermoor aus verständlichen Gründen nicht abgemeldet hat. Auch hatte Hermann Gumpertz seine geschäftlichen Belange nicht geregelt, aus diesem Grunde blieben einige Außenstände offen und mehrere Rechnungen unbezahlt. Es ist auch nicht mehr festzustellen, ob er zunächst allein ins Nachbarland wechselte, während seine Familie sich noch bei Verwandten aufhielt, bis er für einen dauerhaften Aufenthalt dort die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte. Fest steht jedenfalls, dass die beiden Töchter in der Schule Rhauderwieke ordnungsgemäß abgemeldet wurden, und zwar Helene am 3. Februar 1934 nach Sögel und Beate am 8. 2. 1934 nach Petershagen. So kann man es im Schülerverzeichnis unter "Bemerkungen" lesen. Ob sie dann in den angegebenen Schulen auch wirklich angemeldet wurden, wissen wir nicht. Dies könnte aber auch darauf hindeuten, dass das Ehepaar Gumpertz die Kinder vorerst bei Verwandten unterbrachte und allein den Grundstein für einen Neuanfang in Holland gelegt hat. Etwa Mitte Februar 1934 muss Hermann Gumpertz sich in Amsterdam angemeldet haben, denn schon mit Datum vom 20. Februar 1934 fragte die Fremdenpolizei in Amsterdam, Het Hoofdbureau van Politie, routinemäßig bei der Polizeiverwaltung in Leer nach einem Führungszeugnis, auch in politischer Hinsicht, des Hermann Gumpertz. Die parteilich ausgerichteten Behörden beim Landkreis Leer wurden hellhörig, als sie merkten, dass er ihrem Zugriff entwischt war und berichteten nach Amsterdam, dass er Schulden hinterlassen und Urkundenfälschung begangen habe und außerdem ohne gültige Papiere die Grenze überschritten habe. Daraufhin erwog die niederländische Fremdenpolizei schon, ihn nach Deutschland "zurückzuschieben". Bevor sie sich allerdings zu einem so folgenschweren Schritt entschloss, bat sie die Behöden des Landkreises Leer noch einmal um eine detaillierte Auskunft, denn Hermann Gumpertz hatte zwischenzeitlich erklärt, dass er ein politischer Flüchtling sei und dass seine Verwandten in Deutschland seine Schulden wohl begleichen könnten. Als Referenzen für seine Rechtschaffenheit gab er den Schuhmacher Folli Kirchhoff in der Rhauderwieke und den Viehhändler Alfred Weinberg in Westrhauderfehn an. Diese gezielte Anfrage der Fremdenpolizei in Amsterdam löste bei den verschiedenen Dienststellen in Leer und Aurich einen umfangreichen Schriftverkehr aus, der sich bis zum Juni 1935 hinzog. Nachdem die Amsterdamer Fremdenpolizei allerdings von der Stellungnahme des Collinghorster Landgendarmen Tielker vom 18./25. 7. 1934 erfahren hatte, nahm sie von einer Ausweisung des Hermann Gumpertz nach Deutschland Abstand. Tielker hatte zwar auch von Schulden bei drei Firmen, bei der Gemeinde Rhaudermoor und bei seinem Buchhalter Meyer aus Holte berichtet, da diese aber nicht so hoch beziffert waren und durch einen vollstreckbaren Titel mit den noch laufenden Mieteinnahmen verrechnet werden konnten, ging man in Amsterdam anscheinend nicht von betrügerischen Absichten aus. Den Ausschlag gab mit Sicherheit die detaillierte Auskunft des Gendarmen über die exponierte Stellung des Hermann Gumpertz in der SPD und im Reichsbanner "Schwarz-Rot-Gold" auf lokaler Ebene. Da nunmehr der Landkreis Leer es im Laufe des Sommers 1934 für immer unwahrscheinlicher hielt, dass eine Ausweisung von Hermann Gumpertz aus Holland noch erfolgen würde, veranlasste Landrat Hermann Conring mit einem Schreiben vom 17. 8. 1934 Gumpertz' ehemalige Hausbank, die Gewerbe- und Handelsbank in Westrhauderfehn, ihn wegen Betrugs anzuzeigen. Die Bank hatte zwar bisher gar kein Interesse gehabt, sich noch mit den Schulden des geflohenen Geschäftsmannes auseinanderzusetzen, hielt es jedoch nicht für ratsam, sich mit den "gleichgeschalteten" Behörden anzulegen. Am 1. Oktober erstattete sie Anzeige, und die Staatsanwaltschaft Aurich nahm die Ermittlungen auf, allerdings nur halbherzig. Der Oberstaatsanwalt teilte dem Lankreis Leer am 26. Januar 1935 mit, dass er beim Amtsgericht Leer einen Haftbefehl gegen Hermann Gumpertz beantragt hätte wegen Betrugs und schwerer Urkundenfälschung, dass er es aber ablehne, einen Auslieferungsantrag zu stellen, worauf die Behörden in Leer gedrängt hatten. Als nun keine Aussicht mehr bestand, seiner habhaft zu werden, stellte der Landrat in Leer am 20. III. 1935 beim Regierungspräsidenten in Aurich den Antrag, dem Hermann Gumpertz die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen, wie es nach einem Gesetz vom 14. Juli 1933 möglich war und seitdem bei etlichen prominenten politischen Flüchtlingen praktiziert worden war. In einem solchen Fall konnte man den gesamten inländischen Besitz konfiszieren. Den Zwangsversteigerungsvermerk des Gumpertzschen Anwesens in Rhaudermoor hatte man vorsorglich schon am 17. Dezember 1934 ins Grundbuch eintragen lassen und den Termin am 12. Februar 1935 im Auricher Amtsblatt veröffentlicht. In Aurich vermerkte ein linientreuer Sachbearbeiter handschriftlich auf dem Antrag des Landrats Conring: "Ich bemerke, daß der Jude Gumpertz wie üblich als politischer Flüchtling auftritt, während er nachweislich ein ganz gemeiner Verbrecher ist. Sollte man solche Fälle nicht propagandistisch ausnutzen?" Damit waren die Möglichkeiten des Landkreises Leer erschöpft. Hermann Gumpertz konnte in Holland bleiben. Da er schon sehr frühzeitig ins Nachbarland hinüberwechselte, war es ihm sicherlich möglich, dort für sich und seine Familie eine Existenz aufbauen. Im Jahre 1935 holte er auch noch seinen alten Vater Siegesmund und seine Stiefmutter Bertha aus Holten zu sich nach Holland, auch sie sind im Deportationslager Westerbork registriert worden. Nach der Besetzung Hollands durch die deutschen Truppen im Mai 1940 wiesen die Besatzungsbehörden schon recht bald alle Verwaltungsdienststellen, Verbände, Betriebe, Schulen, Kirchen und Vereine an, die Juden auf gesonderten Listen zu führen. Da dieser Anordnung damals in Holland meistenteils Folge geleistet wurde, wofür sich viele Holländer heute noch schämen, war es später kein großes Problem mehr, die Juden "aufzuholen", nachdem auf der Wannseekonferenz am 20. 1. 1942 die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen worden war. Die Juden wurden in das Lager Westerbork nahe der deutschen Grenze unweit von Assen gebracht. Dieses Camp war 1939 als zentrales Flüchtlingslager in einem unwirtlichen Moorgelände entstanden, um die vielen Flüchtlinge aus Deutschland unterbringen zu können. Als die deutschen Truppen Holland besetzten, wohnten dort etwa 800 deutsche Flüchtlinge, die illegal die Grenze nach Holland überschritten hatten, zum größten Teil Juden. Sie hatten keine Möglichkeit mehr zur Flucht, obwohl es viele noch versuchten. Das Lager wurde von nun an mit militärischer Disziplin verwaltet, doch der Kommandant war immer noch ein holländischer Soldat, der dem Justizministerium unterstellt war. Verglichen mit den Konzentrationslagern in Deutschland ging das Leben dort noch einigermaßen "normal" vonstatten. Man durfte zwar das Lager nicht verlassen, es gab wenig zu essen und die Post wurde zensiert, aber für die Kinder gab es eine Schule, und die Erwachsenen mussten in der Landwirtschaft oder in einem der vielen Lagerdienste arbeiten, wie zum Beispiel in der Küche, der Wäscherei, im Krankenhaus, in der Nähstube oder in der Tischlerei. In der Freizeit wurden kulturelle Abende organisiert und Sprachkurse besucht. Das änderte sich nach der Wannseekonferenz. Ab Februar 1942 wurden viele neue Baracken gebaut, und im Juni desselben Jahres übernahm dann die SS die Verwaltung. Ein Stacheldrahtzaun und Wachttürme umgaben jetzt das Areal. "POLIZEILICHES JUDENDURCHGANGSLAGER" stand in großen Lettern über dem Eingangstor. Alle aus Deutschland stammenden Juden in Holland wurden hier zusammengezogen, und am 15. Juli 1942 fuhr der erste Zug vollgepfropft mit Menschen, direkt aus dem Lager nach Auschwitz. Auf diese Weise schafften die deutschen Besatzer die meisten Juden aus dem besetzten Holland in die Vernichtungslager. Jede Woche fuhren zwei Transporte, zuerst nach Auschwitz, ab März 1943 dann nach Sobibor und ab September 1943 wieder nach Auschwitz. Dazu kamen ab Januar 1944 auch noch Transporte nach Bergen-Belsen und vereinzelt nach Theresienstadt. Die Lücken, die die Deportierten hinterließen, wurden durch "Aufholen" der niederländischen Juden aufgefüllt, bis man glaubte, ein "judenfreies" Land zu haben. Der letzte Transport von Westerbork ging am 13. September 1944 nach Bergen-Belsen. Da alle Lagerbewohner registriert wurden und die Listen heute noch vorhanden sind, kann man die Namen der Deportierten in den Gedenkboeken der Oorlogsgravenstichting nachlesen. Das Lager ist heute eine Gedenkstätte. Im Band 13 dieser Gedenkboeken finden wir auch die Mitglieder der Familie Gumpertz. Helene und Beate wurden schon mit dem Transport am 28. 9. 1942 zusammen mit 608 weiteren Personen - darunter auch Walter Cohen aus der Rhauderwieke - nach Auschwitz deportiert. Sie starben zwei Tage später, am 30. 9. 1942. Die Großmutter Bertha Gumpertz geborene Sander verstarb noch im Lager Westerbork am 1. April 1943 im Alter von 75 Jahren. Den neunzigjährigen Großvater Siegesmund Gumpertz schickte man knapp drei Wochen später, am 20. April 1943, nach Sobibor, wo er am 23. 4. 1943 umgebracht wurde. Die Eltern Hermann und Adele Gumpertz wurden mit dem Transport am 11. Mai 1943 nach Sobibor verbracht. Während Frau Adele am 14. Mai 1943 gleich nach der Ankunft in die Gaskammer getrieben wurde, teilte man Hermann Gumpertz den Arbeitshäftlingen zu, die für die Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs zu sorgen hatten. Er kam am 30. 11. 1943 in Dorohusk (Dorochusk) zu Tode. Dieser Ort liegt am Bug, etwa 30 km südlich von Sobibor. Das Lager Sobibor lag in einem abgeschiedenen Wald- und Sumpfgebiet im östlichen Polen und nahm im April 1942 den Betrieb auf. Laut Thomas T. Blatt, einem der wenigen Überlebenden, war es ein reines Vernichtungslager, in dem bis zum Oktober 1943 über eine Viertelmillion Menschen umgebracht wurden, darunter allein über 34000 aus den Niederlanden. Fast alle wurden direkt vom Transportzug durch die "Himmelfahrtsstraße" in die Gaskammern getrieben. Es gab keine "Rampe" zur Selektion wie in Auschwitz, nur ab und zu wurden willkürlich einige Ankömmlinge zurückbehalten, um die Lücken in der ca. 350 Mann starken Gruppe der Arbeitshäftlinge aufzufüllen, die für den reibungslosen Ablauf im Lager vonnöten waren. Hermann Gumpertz muss auch solch ein jüdischer Arbeitshäftling gewesen sein, denn Thomas T. Blatt berichtet u. a. "Am 7. Mai traf ein neuer Transport aus Holland ein und wurde über Nacht abgefertigt. In einer Ecke neben einem Laternenpfahl bemerkte ich etwa dreißig neue junge Leute. Offensichtlich handelte es sich um eine Gruppe, die man direkt aus dem Transport herausgesucht hatte, um diejenigen zu ersetzen, die in den vergangenen Wochen getötet worden waren oder Selbstmord begangen hatten." Auf ähnliche Art und Weise ist höchstwahrscheinlich eine Woche später, am 14. Mai, auch Hermann Gumpertz aussortiert worden. Es ist möglich, dass er in der Lederwerkstatt für die Ausstattung der Lagerleitung arbeiten musste, da er ja vom Fach war. Allen Arbeitshäftlingen war klar, dass niemand von ihnen jemals wieder lebend das Lager verlassen würde. Nachdem im Spätsommer 1943 auf dem Lagergelände noch neun Bunker errichtet wurden, in denen Beutemunition von der sowjetischen Front größtenteils von Frauen unter strengster Bewachung sortiert werden musste, beschlossen einige fronterfahrene russische und polnische Häftlinge, einen Aufstand zu wagen, um dem sicheren Tod zu entkommen. Der Plan wurde sorgfältig vorbereitet und am 14. Oktober 1943 ausgeführt. Innerhalb einer Stunde lockte man nacheinander zehn SS-Männer unauffällig in die Schneiderei und in die Schusterwerkstatt und tötete sie. Ihr erstes Opfer war der diensthabende Lagerkommandant von Sobibor, SS-Untersturmführer Johann Niemann, der aus Völlen stammte. Ausgerüstet mit den Waffen der getöteten SS-Männer stürmten die Häftlinge die Waffenkammer und überwältigten - auch mithilfe beiseitegeschaffter Beutemunition - etliche Lagerwachen und öffneten das Tor. Unter den ca. 300 entkommenen Häftlingen hat sich mit Sicherheit auch Hermann Gumpertz befunden. Einige kamen in dem Minengürtel zu Tode, der das Lager umgab; viele wurde im Laufe der nächsten zwei Wochen in der Umgebung aufgespürt und erschossen. Laut Thomas T. Blatt waren 100 Soldaten der Wehrmacht, 100 berittene Polizisten, 150 Ukrainer und SS-Männer und 500 Mann der 2. und 3. SS-Kavallerie-Brigade an der Menschenjagd beteiligt. Dazu kamen noch Freiwillige, örtliche Polizeieinheiten und Kollaborateure sowie Aufklärungsflugzeuge der Luftwaffe. Bis Anfang November hatte man ein Großteil der Flüchtlinge aufgegriffen und getötet. Laut Richard Rashke wurden in den darauffolgenden Wochen noch etliche wegen der hohen Kopfgeldprämien, die die deutschen Besatzungsbehörden ausgesetzt hatten, von der einheimischen Bevölkerung verraten. Manche Flüchtlinge überstanden auch die folgenden Wintermonate nicht. Insgesamt haben nur 53 der ausgebrochenen Juden von Sobibor die Zeit bis zum Kriegsende überlebt. Da Hermann Gumpertz aus dem I. Weltkrieg Fronterfahrung besaß, konnte er sich bis Dorohusk am Bug durchschlagen, wo er dann letztendlich am 30. November 1943 doch gefasst und umgebracht wurde. Mit ihm zusammen auf der Flucht war höchstwahrscheinlich der Bäcker Julius Israels aus Stadskanaal (* 24.11.1908 in Sappemeer), der laut Els Boon und Han Lettinck ebenfalls am 30. November 1943 in Dorohusk ums Leben gekommen ist. Im Vernichtungslager Sobibor selbst wurden die zurückgebliebenen Arbeitshäftlinge allesamt erschossen. Das Lager wurde dann geschlossen und von auswärtigen Sonderkommandos abgebaut. Nachlese Auch nach dem Holocaust war die Geschichte der Juden in Rhauderfehn noch nicht ganz zu Ende. Linda Spieker, früher wohnhaft in Rhaudermoor am Deich in dem Haus des ehemaligen Lohgerbers Antoni, hatte eine Schwester namens Ida Adelheid Seidewitz. Diese konvertierte zum mosaischen Glauben und heiratete im Jahre 1934 den Eisenbahner Josef Drelich aus Insterburg in Ostpreußen. Als Jude durfte er bei den Nationalsozialisten schon bald nicht mehr bei der Reichsbahn arbeiten und wurde entlassen. Was nun? Eigentlich hatte er vor, nach Südamerika ins "Argentinische Jerusalem" auszuwandern, doch aus dem Plan wurde nichts. Das Ehepaar zog daraufhin ins östliche Polen, das heute zur Ukraine gehört. Später gelang es Josef Drelich und Frau Ida, nach England einzureisen. Sie waren dort zwar in Sicherheit vor der Verfolgung der NS-Behörden, ihnen war aber in London ein überaus entbehrungsreiches Leben beschieden. Manche Nacht verbrachte Josef Drelich in den Londoner Docks auf dem kahlen Betonboden, wenn lediglich ein Schlafplatz für seine Frau aufgetrieben werden konnte. In London schloss er sich der Orthodoxen Jüdischen Gemeinde an. Nach dem Krieg besserte sich die Lage nach und nach, doch das Ehepaar lebte weiterhin in sehr bescheidenen Verhältnissen. Josef Drelich starb im Jahre 1980 in London und wurde dort auch beerdigt. Frau Ida kehrte mit seinem Einverständnis nach Deutschland zurück. Bei ihrer Schwester Linda Spieker in Rhaudermoor verbrachte sie ihre letzten Lebensjahre. Als sie im Jahre 1985 verstarb, legte Frau Linda Wert darauf, dass ihre Schwester in ihrer Nähe auf dem Rhauder Friedhof ihre letzte Ruhestätte finden sollte und nicht ganz auf dem jüdischen Friedhof in Leer. Dem zuständigen Landesrabbiner aus Hannover, der damals noch alle Juden in ganz Niedersachsen zu betreuen hatte, war es zu viel Aufwand, wegen der Beerdigung einer Frau nach Ostfriesland zu reisen. Pastor Bernd Brand von der Kirchengemeinde Rhaude erklärte sich daraufhin bereit, die Beisetzung der Frau Ida Adelheid Drelich geborene Seidewitz in würdiger Form zu begleiten. Daran erinnert auf dem Friedhof in Rhaude folgender Grabstein: .......................................... : : : Ida Adelheid Drelich : : : : * 23. 12. 1901 + 21. 7. 1985 : : : : : : Josef Drelich : : : : * 8. 2. 1899 + 13. 11. 1980 : : : : in London : : : .........................................: --------------------------------------------------------------------- Quellen und Literatur Bücher Hermann Adams, Juden in Jhrhove, Ihrhove 2000 Hermann Adams, Eine jüdische Familie in Ihren, Ihrhove 2001 Hans Joachim Albers, Im Zeitenstrom, Bunde-Wymeer 2006 Thomas T. 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Kirchengemeinde Oldersum, "Vier Jahrhunderte jüdische Geschichte in Oldersum" von Klaus Euhausen Auskünfte - Akten - Nachschlagewerke - Verzeichnisse Wiltrud Ahlers, Bremen-Blumenthal, Auskunft über Familie Bernhard Weinberg Conrad Philipp Graepel, Steuerbuch von 1892 Conrad Philipp Graepel, Debitoren-Hauptbuch der Firma C.A.I. Hagius Sohn 1893 - 1899 Agathe Helling, Rhauderfehn, Auskunft über die Familien Weinberg und Grünberg Johann Korrelvink, Ostrhauderfehn, Auskunft über die Familien Cohen, Gumpertz und Weinberg Johannes Lücht, Rhauderfehn, Auskunft über die Familien Gumpertz und Weinberg Therese Luikenga, Rhauderfehn, Auskunft über die Familien Cohen, Gumpertz und Weinberg Wilhelm Luikenga, Rhauderfehn, Auskunft über den Sportverein TuRa 07 und die Spielvereinigung von 1920 Dietmar und Edeltraud Preuß, Buer, Auskunft über die Familie Weinberg Linda Spieker und Pastor Bernd Brand, Rhaude, Auskunft über Ida Drelich Albrecht und Frieda Weinberg, USA Maria Werth, Emden, Auskunft über Emder Juden Standesämter Emden, Enschede, Jemgum, Maintal, Melle, Münster, Papenburg, Rhauderfehn, Sögel, Stralsund, Weener Einwohnermeldeamt Rhauderfehn Kirchenbücher der Kirchengemeinde Rhaude Gedenkboeken der Oorlogsgravenstichting des Kamps Westerbork Staatsarchiv Aurich, Rep 32 Nr. 659 und 1862, Rep 15 Nr. 10721, Rep 16/1 Nr. 4412, Rep 16/2 Nr. 1602 Grundbuch von Westrhauderfehn, Band XVIII, Blatt Nr. 680 Schulmuseum Folmhusen Geschichtsverein Emmerich Verzeichnis der Einwohner nach Gemeinden alphabetisch geordnet - Adressbuch für Ostfriesland 1880/81 Adressbuch für die Ortschaften des Kreises Leer, der Kreisstadt Weener und der Ortschaften des Kreises Weener 1910 Adressbuch für die Ortschaften des Kreises Leer, des Fleckens Weener und die Ortschaften des Kreises Weener 1926 Einwohnerbuch der Stadt Leer-Ostfriesland 1926 Einwohnerbuch der Stadt Emden, Ausgabe 1934 Adressbücher der Seehafenstadt Emden von 1956, 1959, 1964 und 1969/70 Öffentlicher Anzeiger zum Amtsblatt der Regierung zu Aurich vom 17. 7. 1926, 12. 11. 1927, 23. 3. 1929 Reichsgesetzblätter von 1935, 1938, 1939, 1940, 1941 Der Grosse Brockhaus, Ausgabe Wiesbaden 1983 ----------------------------------------------------------------------