fastenau

Zur 150-Jahr-Feier des Bestehens des Rhauderfehns (Feierlichkeiten im Bahn´schen Saale am 13., 14.  und 15. Dezember 1919) gab Frl. Fastenau die nachfolgende Schrift heraus:

Bilder aus Rhauderfehns Vergangenheit

von Sophie Fastenau

siehe Original in Fraktur!

 Vor reichlich 150 Jahren war die Gegend, in der jetzt West- und Ostrhauderfehn liegen, noch Sumpf, Morast und Heideland; wie auch der Gelehrte Ubbo Emmius gesagt hat: "Das Kloster Langholt ausgenommen, wohnen keine Menschen hier".

   Im Jahre 1769 baten fünf Ostfriesen - Hinrich Thomas Stuart, Johann Friedrich Heydecke in Leer Oberamtmann Rudolf von Glan in Stickhausen, Rezeptor Airich Ibelings zu Breinermoor und Hausmann Wille Janssen zu Holte - den König Friedrich  den Großen alleruntertänigst um die Erlaubnis, in dieser Gegend, die zu den Ämtern Leer und Stickhausen gehörte, ein eigenes Fehn anlegen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde ihnen durch die von Friedrich dem Großen eigenhändig unterschriebene Verleihungsurkunde vom 19. April 1769 erteilt.

   Darin bestimmte der König, daß ihnen 1500 Diemat zu ewigen Zeiten in Erbpacht gegeben würde, so daß sie auf denselben  Torf graben, solchen zu ihrem besten verkaufen, ferner das ausgegrabene Land kultivieren, solches mit Häusern besetzen und an andere in After-Pacht vererbpachten konnten. Femer erwähnt die Urkunde: "An Handwerkern  können sich folgende ansetzen: Ein Grobschmied, ein Rademacher, ein Bäcker zum Grobbacken, ein Höcker, ein Schneider, ein Schuster, ein Maurer und ein Zimmermeister. Leineweber setzen sich an, soviel wollen. Ferner wird  den entrepreneurs die Erlaubnis gegeben, vor der Hand eine Roßmühle gegen eine jährliche Recognition von zehn Reichs-Thalern zu bauen. Die Ausübung des Römisch-Katholischen Gottesdienstes wird ebenfalls gestattet und  steht den entrepreneurs frei, eine Römisch-Katholische Kirche und Schulhaus zu erbauen. Um nun die in der Urkunde verliehenen Moorflächen mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, war zunächst die Grabung eines etwa 7  Kilometer langen Kanals von der Leda bis an dieses Moor notwendig. Nach Fertigstellung dieses Ebbe und Flut haltenden Kanals konnte mit dem Ausbau der eigentlichen Fehnkanäle begonnen werden. Um einen gleichmäßigen Wasserstand in den Fehnkanälen zu haben, sind diese gegen den Außenkanal durch Schleusen (Verlaate) abgegrenzt. Nunmehr wurden von den Obererbpächtern Kolonate in der Größe von 5 bis 10 Diemat (4 bis 8 Hektar) an Kolonisten verkauft. Letztere haben nach etwa 10 Freijahren ein Kaufgeld in fünf gleichen Teilen zu zahlen, außerdem haben sie ebenfalls nach 10 Freijahren jährlich 5 Mark Erbpacht für das Diemat, außerdem für jedes Haus 1/2 Thaler Gold und bei Besitzveränderungen den doppelten Betrag der jährlichen Erbpacht und des Hausgeldes als Ab- und Auffahrtsgeld an die Obererbpächter zu entrichten. Ferner ist von dem gegrabenen Torfeine  Torfheuer zu entrichten - von jedem Diemat etwa 240 Mark. Sodann ist der Untererbpächter verpflichtet, nach Ablauf von etwa 15 Jahren mit dem gegenüberliegenden Kolonisten auf seine Kosten einen schiffbaren Kanal, sowie  längs des Kanals einen Fahrweg herzustellen.

   Das sind die grundlegenden Bedingungen; aber ihre Ausführung nicht jedermanns Sache. Denn es liegt auf der Hand, daß die Verwandlung des öden Hochmoors in menschliche Kulturstaaten einen großen Aufwand von Fleiß und eiserner Willenskraft erforderte. So entstand und blüht mehr oder minder hier noch heute ein fleißiges, tatkräftiges Geschlecht, das mit diesen Tugenden die Liebe zur selbstgeschaffenen Scholle verbindet. Die ersten Ansiedler kamen aus anderen älteren Fehnanlagen Ostfrieslands und aus Holland.

   Die Ansiedlung geschah in der Weise, daß  zunächst eine einfache Hütte aufs Hochmoor gebaut, dann vorne am Kanal der Torf gegraben und verkauft wurde. Die Männer beförderten ihn in die benachbarten Städte und Ortschaften, brachten Schlick und Dünger zur Kultivierung des Bodens wieder mit zurück, und daraus entwickelte sich nun mehr und mehr die Schiffahrt Von dem Erlös des Torfgrabens wurde dann im "Untergrunde", auf festem Sande, ein Haus gebaut, dessen Rückwand oft aus Torfsoden bestand. Diese Häuser enthielten gewöhnlich nur eine Küche, die Kamer und den Viehstall. Die Upkamer wurde meistens von den Mietern benutzt, die man auch Inquilinen oder Kamersitters nennt. Oft sind diese Kamersitters die eigenen Eltern, die sich "aufs Altenteil" zurückgezogen haben. - Lange Gardinen waren ein unerhörter und daher hier nicht eingeführter Luxus; die Fenster waren nur mit kleinen  Zackengardinen geschmückt. Das erstere

freilich im stillen erwünscht waren, geht aus der Äußerung eines Mädchens hervor: "Ik nehm de Mann um de Schlingergardinen". Nach der Wegseite grenzte der  Kolonist seinen Besitz durch eine grüne Hecke ab, an welche er Eichen pflanzte, wodurch Haus und Garten ein freundliches Ansehen erhielten.

   In diesen Häusern führten nun die Fehnbewohner ein  einfach gottesfürchtiges und arbeitsames Leben. Gering war der Wohlstand; denn was der Boden in den ersten Jahren an Ertrag lieferte, war natürlich nicht viel. In der Hauptsache wurden Buchweizen und Kartoffeln  angebaut. Um ersteres zu säen, wurde vom Moor die oberste Schicht, nachdem sie gelockert war, abgebrannt und in die Asche wurde der Buchweizen gesäet. Diese Art und Weise war aber sehr unrationell, weil dadurch dem  Boden Nährstoffe entzogen und nichts neues hinzugeführt wurde. Sobald die Mittel es erlaubten, schritt man darum auch zur regelrechten Düngung des Landes. Bald konnten sich die fleißigen Kolonisten selbst etwas Vieh halten, etwa ein Schwein und ein Milchschaf oder wohl gar eine Kuh, was natürlich auch wieder dem Lande zugute kam. Bei alledem waren und blieben die Leute genügsam. Das Essen bestand im allgemeinen morgens aus in Speck  gebackenen Buchweizen-Pfannkuchen mit Schwarzbrot oder Roggenmehlbrei; mittags in mit Speck oder Talg gekochtem Gemüse und Kartoffeln und abends in Bratkartoffeln, die in Fett oder Oel gebraten und mit Schwarzbrot  gegessen wurden. Weißbrot wurde nur Sonntags gegessen, und zu den Feiertagen brachten die Leute ihren eigenen Roggen in die Mühle und backten das Brot dann selbst. Erst in späteren Jahren wurden für die vornehmeren Leute, z. B. den Pastoren, Kaufmann usw. am Sonnabend Eierbrötchen gebacken, und Veen-ohm Platte aus Bullerbarg kam wöchentlich einmal mit seinem Sack übers Moor und brachte ein Roggenbrot zu 9 Stüber = 50 Pfg. Um  dieser Vergünstigung willen mußten sich die vornehmeren Kinder von den anderen das Schimpfwort "Ji Stutefreter" gefallen lassen. An Fleischnahrung gab es die selbstgeschlachteten Schweine, wovon in der Regel  noch die Schinken verkauft wurden. Als sich ums Jahr 1850 in dem aufblühenden Orte der erste Schlachter niederließ, konnte man Kalbfleisch kaufen und wurde das ganze Hinterviertel mit 9, das Vorderviertel mit 6 Stüber  bezahlt. Der Pastor verkaufte derzeit auf dem Holter Markt eine Kuh für 17 Thaler. Ebenso billig war die Butter, die in Slagten - reichlich l Pfund - zu 25 Pfg. verkauft wurde. Als Getränk diente Tee und Kaffee, wozu  nur an Sonn- und Festtagen oder bei Besuch Zucker genommen wurde. Diese sparsame Wirtschaftsführung war auch dringend erforderlich, sollten die Ausgaben im richtigen Verhältnis zu den Einnahmen stehen. Eine Frau  verdiente z. B. nur 60 Pfg. Tagelohn; dem Pastoren waren (1929) 300 Thaler Anfangsgehalt von der Rhauderfehnkompagnie zugesichert, wovon die Hausbesitzer 3,92 Mark und die Inquilinen (Einmieter oder Kamersitters) 75 Pfg. bezahlen mußten. Der Lehrer erhielt von den Hausbesitzern 1,13 Mark und von den Inquilinen 0,37 Mark. Noch in späteren Jahren begann der erste Lehrer auf Ostrhauderfehn mit 24 Thalern und "Reihetisch".  Überaus einfach war auch die Kleidung. Sie bestand im allgemeinen aus Rock, Jackje und baumwollener Schürze; ersterer in der Regel aus selbstgesponnenem Garn angefertigten Fünfschaft oder Baje. Das Jackje war aus Druckkattun oder bei vornehmeren Leuten aus Merino gefertigt. Nur sehr wohlhabende Leute leisteten sich ein Kleid aus Fünfschaft, welches dann auch so gespart wurde, daß es fast ein Menschenleben vorhielt. Die Männer trugen Sonntags Düffel-Jacke und Hose, täglich engels oder Pilot-Hose mit Khelaß oder düvelstark Busseruntje. Die älteren Frauen trugen auf dem Kopfe sogen. "Hüllen", die aus weißem mit lila Blümchen bedruckten Kattun hergestellt waren; an den Ohren wurden sie durch goldene Stifte gehalten. Bei festlichen Gelegenheiten hatten sie eine Sluuthülle aus weißem Mull darüber. Selbst die Kinder gingen in den oben  beschriebenen Trachten zur Schule und die Halberwachsenen zum Konfirmandenunterricht und zur Kirche. –

   Der Regenschirm war hier ein mehr oder minder unbekannter Begriff; die Kinder zogen beim  Regen die Kleider über den Kopf. Als - erst in späteren Jahren - eines Tages der Postbote einen mit bunten Quadraten versehenen baumwollenen Schirm aus Leer mitbrachte, stießen sich die Mädchen kichernd an: "Kiek eben de Schirm, de kriegt säker Frau Pastor." Eine Schiffersfrau verbarg den ihr von ihrem Manne aus Danzig mitgebrachten Schirm unten in einer Kiste; denn "dor dür'k ja nich mit loopen"; eine andere  schenkte den ihr von ihrem Bräutigam gekauften Schirm nach 25 Jahren ihrer Tochter wieder. Was Wunder, wenn bei dieser sparsamen und fleißigen Bevölkerung das Fehn wuchs und aufblühte? Als es im Jahre 1929 8 - 900  Einwohner zählte, baten sie, die sie bislang zur Parochie Rhaude gehört

hatten, um einen eigenen Pastoren, der ihnen auch bewilligt wurde und welcher 53 Jahre in großem Segen dort gewirkt hat. Damit war eine lutherische Kirchengemeinde gegründet; die katholische folgte im Jahre 1833, und beide Konfessionen leben und wirken bis auf den heutigen Tag dort friedlich nebeneinander.

   Zur sogenannten "niederen" Geistlichkeit zählte sich Laurenz, der bei nicht völligem Verstande im Hauptamt Kirchendiener, im Nebenamt "Biesjager" (um Bettler über die Grenze zu schicken) war. In seiner Eigenschaft als Kirchendiener klopfte er am Sonntagmorgen an das Fenster des Pastorenhauses, um stotternd anzukündigen: "Hä (der Pastor) kann man komen".

   Als er einst in seinem Eifer zur Wahrung  der Ruhe in der Kirche selbst zu laut wurde und der Pastor mahnte: "Laurenz, sachte, nicht so foß!" konnte er in seinem verletzten Ehrgefühl nur noch mit vielem Stottern hervorbringen: "Pastor, dor was'n Katte (Katze) in de Karke."

   Als "Biesjager" mußte er, mit Stock und gelbem Messingschild ausgerüstet - letzteres ein Zeichen seiner Würde - die auf dem Rhauderfehn nicht  berechtigten Armen über die Grenze jagen. Dabei hatte er es besonders auf die "Rhauderwiekster Schmachtlappen" abgesehen. Daß dieser Zug immer von einer Schar Kinder begleitet wurde, läßt sich denken. Deuteten  die Kinder noch bewundernd auf sein Messingschild, überzog sein Gesicht ein heiter-stolzes Grinsen. Und dabei hatte ein freundliches Geschick auch für den vielbelachten Laurenz noch ein Fünkchen Glück aufgehoben. Es wurde ihm ein Ochse geschenkt und so wurden Laurenz und Janna in späteren Jahren noch stolze Fuhrwerksbesitzer. Übrigens besaß das Rhauderfehn derzeit noch keine Kirche und auch kein Pfarrhaus. Die jetzige Pastorei wurde 1834 gebaut. Die Schule, selbst sehr einfach, diente am Sonntag als Gotteshaus. Eine Glocke, die aus dem vor mehreren hundert Jahren im Dollard versunkenen Orte Fleetum stammte, rief zum Gottesdienst. Sie trug die  Inschrift:

"Maria bün ik geheeten, Fleetum hett mi laaten geeten."

   Eine Schulgemeinde bestand schon früher. Bereits im Jahre 1819 wirkte hier ein Lehrer, der von Haus aus Weber war. Die Kinder nannten ihn "oll Mester", im Gegensatz zum "Küsjes" (Kustos), der zweiter Lehrer war. Über die damaligen Schulverhältnisse wird heute mancher Pädagoge den Kopf schütteln und doch sind aus ihr arbeits- und gesinnungstüchtige Männer und Frauen hervorgegangen, wert, Gottes Boden zu betreten. - Gelehrt wurde Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Jeden Morgen im Winter, bevor der Unterricht  begann, mußte jedes Kind einen zur Heizung der Schule dienenden Torf abliefern. Anfänglich wurde er schon in der Tür mit dem Ruf: "Mester! n' Törf!" in die Ecke geworfen; später wurden sie, der besseren Kontrolle wegen, von einem Jungen eingesammelt und in die Torfbakke befördert, welche zugleich als "Slüngelhörn" diente, worin die Jungen ihre Strafe zu verbüßen hatten. "Mars' in't Slüngelhörn!" Das  war die kurze Weisung, wenn jemand sich in diese Ecke zu verfügen hatte. Genau achtete oll Mester auf die Beschaffenheit der Törfe. "Ik will jäu mit de verdammten Griesen", schalt er, wenn sie ihm allzu hell und leicht erschienen.

   Nach diesem einleitenden Akt ging's zum Unterricht über. Den Anfang bildete das Abc. Der Lehrer malte mit Kreide die Buchstaben an eine dunkle Tür und paukte sie den  Kindern durch Vor- und Nachsprechen ein:

Kinder! wo häät groot a?      worauf die Antwort im Chor erscholl: a!

Kinder! wo häät middel a?

 Kinder! wo häät lütjet a?

Kinder! wo häät dick Bukd b? b!

Kinder! wo häät de Keerl mit krumme Rügge? d!

Kinder! wo häät de mit Tüttel boben Kopp?    i!

Kinder! wo häät de Kruuskopp?              k!

 Kinder! wo häät de lange Lümmel?           l!

Kinder! wo häät dat m mit de drä Strecken?    m!

 Kinder! wo häät dat n mit de twä Strecken?    n!

Kinder! wo häät de mit ään Oog in't Kopp?    e!

 Kinder! wo häät de mit Büngel an't Been?     g!

Kinder! wo häät de mit Spieker dör't Liew?    t!

 Kinder! wo häät de mit Steert?                x      usw.

   Nach diesem Einpauken der Buchstaben fing das Buchstabieren an, darauf das Lesen im A b c Buch und zuletzt im Testament.

   Schreibbücher gab es nicht; geschrieben wurde auf Bogenpapier, unter denen man groote Texe, mittel-und lüttje Texe unterschied. Beim Schreiben kamen buntbemalte Kasten in Gebrauch, die sonst Behälter für Tafel und Bücher waren. Diese Kasten dienten nämlich, auf die Erde gestellt, als Sitze. Auf die Bänke, die  ohne Lehnen waren, wurde das Papier gelegt und Stuhl und Tisch waren fertig. Die ärmeren Kinder, die solche Kasten nicht hatten, saßen auf Törfen. Die Tintenfässer waren aus Hörn, enthielten einen mit Tinte gefüllten  Docht und wurden mit einer Schraube geschlossen. Sehr beliebt war, diese Schraube recht fest zu schließen. "Mester, ick kann mien Enkspott nich open kriegen." "Loop gau na Dirk Schmied." Und dann konnte man erst mal mit gutem Gewissen zu Dirk Schmied, jenseits des Kanals, verschwinden.

   Die Rechenbücher waren holländisch; sie hießen lütje Emder und groote Emder. Eine beliebte  Rechenaufgabe war: Wenn ick l Äppel hebb und noch l Äppel, wovööl Äppel hebb ick dann? In der Religionsstunde wurden Gesangverse und Bibelsprüche langsam und mit Betonung vorgesagt. Die Kinder wiederholten sie im Chor,  wobei sie sich bankweise einhakten und bei diesen Antworten beständig vor und rückwärts schaukelten. Diese Methode wandten die Kinder auch an, wenn Mester nichts mehr "wußte" oder gegen 4 Uhr nachmittags müde  wurde und dann sagte: "Kinder, nu müßt Ihr lärmen! lärmen!" Dann hakten sie sich ein, schaukelten hin und her und machten einen solchen Lärm, daß er schließlich mit seinem Stock gegen die Wand schlug: "Schallenst täu Burlage hören?" Originell war der Alte in Erfindung von Strafen. Die Jungen mußten sich von den Mädchen eine Bibel leihen, sie hochhalten und ihren Dank in hochdeutscher Sprache ausdrückend, zurückgeben. Sonst wurde nur plattdeutsch geredet, auch im Unterricht. Eine andere Art der Strafe bestand darin, daß die Jungens sich hintereinander aufstellten, das rechte Bein ihres Vordermanns anfassen und allzusammen hinken mußten. Ferner wurden sie hinaus geschickt, Stöcke zu schneiden, mit denen sie dann geprügelt wurden. Der Aufbewahrungsort für die Stöcke war die Totenbahre, die den einzigen Wandschmuck der Schule  bildete. Eine mildere Form der Strafe, die namentlich bei Mädchen angewandt wurde, war das Verändern der Plätze. Gewöhnlich saßen die Jungen rechts und die Mädchen links. Als Strafe wurden die letzteren zwischen die  Jungen gesetzt. Besonders schwer fiel oll Mester die Erziehung nach den langen "Vakanzen" im Herbst oder den gar noch länger ausgedehnten im Frühling. Die Kinder durften nämlich beliebig aus der Schule fehlen, sobald die Eltern sie im Hause, auf dem Acker oder beim Torfgraben nötig hatten. Kamen sie nach langer Pause wieder, so waren sie nach oll Mesters Meinung recht verwildert, und der Empfang infolgedessen auch nicht allzu rosig. "Ick will jäu Lümmels de Wellkums geben! In't Sömmer loop ji achter de Schapen un in't Winter sitt ji bi't Euer und dröögt jäu Nagels." Dann begann er auch den äußeren Menschen neu zu kultivieren.  Waschgelegenheit für alle bot ein auf den Weg gestellter Eimer mit Wasser, das übrige tat ein wie eine Harke aussehender Messingkamm, sowie eine Schere, und dann äußerte der Alte befriedigt: "Nu kiek ji ins heller uut de Oogen." Kein Wunder, wenn ein staunender Zeitgenosse meinte: "Hä hett Kultur herinbrocht." Am Freitag kam der Pastor zu "visitieren". Damit nun in dem betreffenden Augenblick die ganze Schar in der nötigen Ruhe und Ordnung war, wurde von Zeit zu Zeit ein Kind auf den Weg geschickt:

   "Kiek reis täu, off P'staar kummt." Tauchte nun etwas zylinderähnliches, unter dem  man mit Recht den Pastoren vermuten konnte, am Horizonte auf, geriet oll Mester auf diese Meldung hin in fieberhafte Tätigkeit. Hin und her ging er durch die Reihen, mit entsprechenden Bewegungen nach rechts und links mahnend und mit dem Stock auf die Bänke schlagend: "Pscht, pscht! P'staar kummt! P'star kummt." Das dauerte so lange, bis der Erwartete eintrat und nun richtig die ganze Jungens- und Mädchenschar in musterhafter Ordnung vorfand.

   Ein Glanzpunkt im Schulleben war das Judikafest, das 14 Tage vor Ostern, teils in der Kirche, teils in der Schule gefeiert wurde. Wenn irgend angängig, bekam jedes  Kind dazu ein neues Kleid respektive einen neuen Anzug. Mindestens 6 Wochen früher fing die Katechisation in der Schule in deutscher Sprache an, und es handelte sich immer um die ersten Fragen im Katechismus. Femer mußten die Knaben die Arien (Lieder) zu Judika "prentjen", d. h. die Anfangsbuchstaben wurden mit Farben bunt bemalt und zum Schlusse stand ebenso kunstvoll: Ende dieser Aria! Dazu wurden - einmal im Jahr zu  Judika -Schreibhefte bewilligt. Eine sehr beliebte Arie war: Der beste Freund ist in dem Himmel usw. - Sehr interessante Persönlichkeiten waren vor dem Judikafest die "Koopers". So hießen die Kinder, die das  Geschenk für den Lehrer, welches ihm zu Judika überreichtwurde, aussuchen und kaufen durften. Sie hatten das große Vorrecht jederzeit und ungefragt aus dem Unterricht zu gehen, um sich draußen über die Art des Geschenks zu beraten, resp. welcher Kaufmann in Verdienst gesetzt werden sollte. Das Resultat dieser Beratungen bestand gewöhnlich in Tassen, einer Pfeife, Lampe usw. - Am Tage vor Judika wurde die Schule mit vereinten Kräften tüchtig gereinigt; die Jungen holten Wasser aus dem Kanal und die Mädchen "schrubbten". Dann verfeinerten sie sich selbst, indem die Mädchen sich das Haar in etwa 20 Zöpfe flochten, die andern Tages - aufgelöst - gleich einer Wolke um den Kopf schwebten. Die Jungens sparten keine Seife, um sich spiegelblank zu reiben, und so waren alle Kinder nach innen und außen wohl gerüstet, wenn Judika seinen Einzug hielt. Die einleitende Feier fand in der Kirche statt, anfangs in der als solche dienenden Schule. Jahraus, jahrein stellte  oll Mester dieselben Fragen und zwar an diesem Tage, seiner Bedeutung gemäß, in hochdeutscher Sprache: "Wer hat die Welt erschaffen, Kinder oder wer ist sein Baumeister gewesen?" Nach einigen weiteren Fragen  aus dem Hannoverschen Katechismus wurde mit ebensolcher Gewißheit fortgefahren: "Was sind die vier Hauptreligionen?" worauf die Antwort prompt im Chor erscholl: "Die christliche! - die heidnische! -die jüdische! - und die muhamedanische!" Dabei wurde immer die letzte Silbe betont. Dann wurden die Arien gesungen und darauf fand das "Gesprech" statt. Etwa fünf Kinder beteiligten sich an Rede und Gegenrede, Frage und Antwort; für die Zuhörer entschieden der spannendste und interessanteste Teil der Feier. Denn abgesehen davon, daß dieses "Gesprech" oft vom Lehrer selbst gedichtet war, erscholl bald aus dieser, bald aus jener Ecke der Kirche Rede und Gegenrede, was an und für sich schon humoristisch wirkte. Den Schluß bildete eine kurze Rede, sie enthielt den Dank der abgehenden Kinder an den Lehrer und - sich mit einer Verbeugung nach der Kanzel hinwendend - auch an den Pastoren. - Nach diesem Examen in der Kirche fand die Nachfeier in der Schule statt. Zunächst wurde dem Lehrer das betreffende Geschenk überreicht, wozu einer der Kooper folgendes Gedicht hersagte:

   "Nehmet die Geschenke, die wir jetzt Euch bringen,

Gern von Euren Schülern an;

Mögen sie zu dessen Throne dringen,

Der sie uns erfüllen kann.

 

Wandelt lange noch in unsrer Mitte,

Gute, treue Lehrer Ihr!

Segen folge jedem Eurer Schritte!

Gutes wünschen wir zu Ihr!"

   Das Ende von Judika war eine Freierei. Jeder Junge hatte seine Judikabraut, mit der er tanzte.  Nebenbei wurde Schokolade getrunken, und alle waren von Herzen froh und heiter.

   An diesem Judikafeste nahm der ganze Ort den wärmsten Anteil, wenn sonst bei seinen Bewohnern auch kein Sinn für  Spiel und Tanz vorhanden war. Das zeigte sich ebenfalls an den Familienfesten, bei denen alles ordentlich und ruhig zuging. Eine größere Bedeutung als der eigentlichen Hochzeit wurde der Verlobung beigelegt. Sie fand statt, wenn das junge Paar zum erstenmal vom Pastoren proklamiert wurde. Dann flaggten die Schiffe, es wurde geschossen, und der Bräutigam mußte l Louisdor = 5 Thaler Gold (Mark 16,50) "austun", die im Wirtshaus verzehrt wurden. Die Trauung fand meist abends im Pastorenhause statt, war Familiensinn vorhanden, baten sie den Pastor zu sich. Die Tauffeiern waren auch einfach; ebenfalls öfters im Hause des Pastoren oder in der Kirche. Die Vornamen erhielten im späteren Alter Beinamen. Verheiratete wurden nämlich fast immer Oom oder Moie angeredet und dabei die Frauen nach dem Vornamen ihres Mannes bezeichnet, z. B. Harmooms-Fraukemoie, Gerdooms-Geeskemoie, Willooms-Wopkemoie usw.; umgekehrt kam es auch vor, daß der Mann durch den Vornamen der Frau näher bezeichnet wurde, z. B. Jan Engelsmann, der Mann, der eine Engel zur Frau hatte.

    Bei Beerdigungen wurden die Leichen in früheren Jahren zu Schiff auf dem Kanal zum Friedhof gebracht. Der mit dem Totenlaken bedeckte Sarg wurde mitten ins Schiff gestellt. Die Frauen saßen um den Sarg  herum und die Männer zogen das Schiff. Erst in späteren Jahren wurde der Sarg auf einen Wagen gestellt; Nachbarn trugen den Sarg oder mußten Träger stellen. Das ist noch heute ihre Pflicht, dem Ausspruch gemäß: "et nahbert dorhen". Aber wie unendlich viele, gerade hier auf den Fehnen, können nicht in heimatlicher Erde bestattet werden; sie haben ihr Grab in den Wellen des Meeres gefunden. Gibt es hier doch kaum ein Haus, in  das nicht der Pastor die Trauerkunde hat bringen müssen, daß der Gatte, Vater oder Bruder nicht wiederkehrt. Und die Frauen? "De Sää will ook bedäänt wesen", so fügen sie sich still ergeben in Gottes Willen.  Ein tapferes Geschlecht! Die fries'schen Schifferfrauen. Und wenn auch Vater und Brüder auf See "blieben", der Junge wurde doch wieder Schiffer. Mit Hohn und Spott wurde es begrüßt, wenn er auf Befragen nicht die Antwort gab: "Ik will Schipper worden."

   Nach der Konfirmation lernte der 14 jährige Junge zuerst auf den heimatlichen Schiffen; er fuhr beim Vater als "Koch". Wollte er  später größere Fahrten machen, ging er zur "Wester" (Weser), um sich anmustern zu lassen. In alten Zeiten brauchten sie kein Examen zu machen; die Jungen lernten die Steuermannskunst wohl auf eigenen Antrieb bei einem Lehrer in Ostrhauderfehn. Später genügte ein Examen sowohl für Steuermann als Kapitän.

   Nach der Lehrzeit befuhr der Schiffer entweder eins seiner Heimatschiffe, die Mutten, die den Torf durch den Kanal in die benachbarten Ortschaften brachten, oder er machte größere Reisen auf den Tjalken, Kuffs, Schoonern und Gallioten, um "na Ost und West" zu fahren. Diese größeren Schiffe fuhren im  Herbst nach der Ostsee, um Getreide zu kaufen. Als Geschenk von den Maklern brachten die Schiffer silberne Löffel mit; in England kauften sie sich gern kleine Figuren aus Stein, besonders möglichst krause, buntbemalte  Pudelhunde. Im Jahre 1842 haben Fehntjer Schiffer Hamburg wieder mit aufbauen helfen, indem sie ihren Torf nach den Ziegeleien zu Krautsand bei Drochteren brachten. Im übrigen war ihre Meinung bezüglich des Hamburger Brandes: "Dat hett de Engelsmann (Engländer) dann". Sie dachten, aus Neid ob Hamburgs Größe. Die Schiffer, welche noch weiter in die Welt hinauswollten, "dorthin, wo't Warmer is", gingen als Matrose,  Steuermann oder Kapitän auf Barken oder Vollschiffe in Dienste. Natürlich blieben sie dann oft jahrelang fort. Was Wunder, wenn bei den derzeitigen schlechten Post- und Verkehrsverhältnissen nur spärliche Nachricht nach dem Fehn gelangte oder gar bei der Todesmeldung ein Irrtum unterlief? Tatsächlich ist es öfters vorgekommen, daß der totgeglaubte Mann zurückkam und seine Frau - das Weib eines andern war. Während nun die Männer ihrem Schiffergewerbe nachgingen, das sie meistens vom März bis November der Heimat fernhielt, mußten die Frauen doppelt fleißig sein; hatten sie jetzt doch neben der Hausarbeit fast sämtliche landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten. Nur das eigentliche Graben des Torfes wurde von Männern ausgeführt, die meist aus den benachbarten kleinen Moorkolonien kamen. - Entstand während der Arbeit bezüglich des bedungenen Lohnes oder der zu  grabenden Fläche - das Maß war eine an der Schule befestigte Stange - eine Differenz zwischen Arbeitgebern und -nehmern, so sagte man, "se hebben't lawei upstoken", d. h. sie streikten. War das Torfgraben beendet, stellten sie einen mit großen, bunten Blumen geschmückten Stock (Maibaum) am Kanal vor dem Hause des Arbeitgebers auf, und letzterer gab dann den Torfgräbern ein Festessen (Plumen un Görte). Die weitere  Bearbeitung des Torfs fiel den Frauen zu. Sie mußten ihn verladen, kunstvoll im Schiff verstauen und dann das beladene Schiff oft 3 bis 4 Kilometer weit zur Schleuse ziehen.

   Nur durch diesen  Fleiß ist es den Fehnbewohnem möglich geworden, vorwärts zu kommen und eine blühende Kolonie ohne jede Staats- oder sonstige Hilfe zu schaffen. Daß hier heute noch eine einigermaßen lohnende Schiffahrt besteht, ist auch  nur der Tüchtigkeit der Männer sowie dem Fleiß und der Sparsamkeit der Frauen zu verdanken.

   Leichter bekamen sie es, wenn die Männer im Spätherbst von ihren Schiffsreisen heimkehrten. Dann  saßen sie an den langen Winterabenden gemütlich am Herdfeuer und bei der Messinglampe; die Männer strickten sich Unterzeug, Treuje genannt, rauchten aus ihren Tonpfeifen und erzählten von der großen Welt da draußen.  Diese Messinglampe enthielt einen mit Rüböl oder Tran getränkten Docht und wurde deshalb Trankrüsel genannt. Eine einfachere Art der Beleuchtung war der "Dreitimp", ein mit erhöhtem Rande versehenes  dreieckiges Ding, bei dem der Docht aus einer Ecke und bei festlichen Gelegenheiten sogar aus drei Ecken herausgezogen werden konnte. Vornehmer war eine Talgkerze, bei der die Leute oft die feinsten Näharbeiten gemacht  haben.

Die Tonpfeifen wurden fleißig benutzt. Der Pastor bekam bei seinen Besuchen stets eine neue, wenn sich nicht, wie in einigen Häusern, in denen er öfters vorsprach, eine eigens mit seinem Namen  versehene Pfeife befand. Im ersteren Falle wurden sie noch wohl anderen Gästen gereicht mit dem Bemerken: "Hett nümms ut rookt als Pastor." Hin und wieder brachten die Schiffer auch Zigarren mit; aber man konnte sich mit ihnen, als mit einer Neuerung, nicht recht anfreunden oder - man rauchte sie heimlich. Und bei den Tonpfeifen ließ sich auch gut plaudern von "de Welt dor buten" und ihren Ereignissen. Bei der  Erzählung der Unruhen im Jahre 1848 stießen sich die Kinder erschrocken an:

   "Wenn de Krieg hierher kummt, gah wi in de Törfpütte." Dem Erscheinen der ersten Dampfschiffe in  Ostfriesland wurde die Kartoffelkrankheit im sogenannten Hungerjahre 1846/47 zugeschrieben: "Datt hett de Damp daan", war eine vielfach verbreitete Ansicht.

   Wenn nicht durch die  Erzählungen der Schiffer und durch die zweimal wöchentlich erscheinende Kurante (Zeitung) ein Ton von Außenwelt in diesen stillen Winkel hineingedrungen wäre, hätten die Fehnbewohner infolge der schlechten Verkehrsverhältnisse wohl wenig von den Dingen da draußen gehört. Im Sommer war freilich ein passierbarer Fahrweg sowohl nach der Stadt Leer als auch nach dem Amts- und Gerichtssitz Stickhausen vorhanden. Sobald aber im Herbst, am 10. November gesperrt, d. h. die Hammriche unter Wasser gesetzt waren, hörte jede Wagenverbindung mit Leer auf, da die Wege mit überflutet wurden. Der Weg nach Stickhausen aber wurde zwischen Potshausen und Stickhausen so sehr durch den Herbstregen aufgeweicht, daß er unpassierbar war. Dann konnte man nur nach Leer kommen, indem man zu Fuß oder mit dem Wagen nach Breinermoor kam, dort ins Boot stieg und entweder nach  Tjackleger oder Leer fuhr. Diese etwa einstündige Bootfahrt war bei Herbststürmen und Regenwetter wenig angenehm. Geradezu gefährlich war die Reise, wenn Schneeeis in der Leda umhertrieb und der Fährmann immer wieder mahnt: "Kinder, nu muttji wübbeln! wübbeln!" Oder wenn man infolge des Schneetreibens sich nur mühsam auf allen Vieren vorwärts bewegen konnte, gegen den Wind eine Nachtmütze auf dem Kopf trug und die durch  den Schnee unkenntlich gewordenen Gräben nur durch vorsichtiges Umhertasten mit einem Brett überbrücken konnte. Wasserstiefel waren für diese Reisen durchaus nötig. Solange kein Frost eintrat, gab es noch eine andere Beförderungsgelegenheit, nämlich mit dem sogenenannten Beurtfahrer, einem kleinen Muttschiff - Siemt Ludewigs, später Steenblocks Mutte genannt - mit einem Roof (Kajüte) von 2 Meter Länge und l½ Meter Breite, in der vielleicht ein sechsjähriges Kind geradeauf stehen konnte. Man mußte sich allerdings der Gefahr aussetzen, in einer Tiede bei Gegenwind nicht nach Leer zu kommen und bei Nacht entweder weiterzufahren oder still liegen  zu müssen. So war natürlich auch die Frachtbeförderung eine schwierige Sache. Als 1848 ein aus Varel kommender Küchenherd im Eise der Leda stecken blieb, mußte stärkerer Frost abgewartet werden; dann legte man Bretter  bis ans Schiff, und so konnte der Ofen zu Wagen weiterbefördert werden. - Bis zu Anfang der 50er Jahre gab es auf dem Fehn kein Fuhrwesen. Das Gespann mußte von Burlage kommen. Im Vorsommer und Frühherbst ging die  Weltreise nach Leer dann vor Tagesgrauen los und endete spät abends schon mehr in der Nacht. Natürlich stand nur ein Ackerwagen mit der allerdings großen Errungenschaft einer "Lehnbank" zur Verfügung. Eine  Folge dieser schlechten Verbindungen war natürlich die mangelhafte Brief- und Zeitungsbeförderung. Anfangs ging der alte Postbote Gerd de Freese zweimal wöchentlich nach Leer um Zeitungen - die in Emden erscheinende ostfriesische Zeitung und das Auricher Amtsblatt - ferner die Briefe zu holen. Als später die Zeitung dreimal erschien, machte er den Weg dreimal; im Winter mit dem Boot oder auf Schlittschuhen - Freimarken gab es nicht; die Briefe wurden nach der Entfernung taxiert; ein Brief nach Leer kostete l½ Stüber - 8 Pfg. Nach einer weiteren Entfernung hin bezahlte man oft bis zu einer gewissen Grenze und ließ den Empfänger die letzte Strecke bezahlen. Kam nun Gerd de Freese abends mit seinen Postsachen nach dem Fehn zurück, war große Versammlung im Hagius'schem Hause, da dorthin die Schifferfrauen kamen um in der "Kurante" die  Schiffsnachrichten zu lesen. Ein anderer Postbote - Roskam - ging zweimal wöchentlich nach Stickhausen, um Briefschaften nach und von Amt und Gericht zu befördern. Als nun im Jahre 1854 die erste Eisenbahn Ostfriesland durchfuhr, bekam Rhauderfehn eine eigene Postagentur, und nun geschah die Briefbeförderung täglich durch den Postboten Bottmeier, der in scharlachrotem Rocke zwischen Jhrhove und hier zu Fuß ging und von Ihrhove nach  Leer die Eisenbahn benutzte. Genannter Briefbote war übrigens im Nebenamt Nachtwächter in Leer. Zu gleicher Zeit wurde noch eine Personenbeförderung hergestellt; zunächst mit einem Ackerwagen, auf welchem ein hölzener Kasten stand, Doodekiste genannt. In diesen Kasten kroch man vorne hinein und mußten die erst einsteigenden Fahrgäste über sämtliche Sitzplätze hinwegklettern, um hinten in den Wagen zu kommen und ebenfalls wieder, wenn  ausgestiegen wurde. So waren die Zustände auf dem Rhauderfehn bis etwa zu Anfang der 60er Jahre. Und nun war es, als ob die Kultur auch hier gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln schritte. Schon 1848 hatte sich die  Gemeinde eine stattliche Kirche erbaut, dem sie später aus eigenen Mitteln noch einen Turm hinzufügen konnte. Es wurden neue Schulen errichtet und ordnungsgemäß geprüfte Lehrer angestellt. Nach allen Seiten wurden gute Verkehrswege geschaffen; Ostrhauderfehn, das bislang nur auf einem ums Meer führenden Deichweg zu erreichen war, bekam 1861 eine durchs Meer führende Verbindungsstraße. 1864 ließ sich auf Rhauderfehn der erste Arzt nieder, und zugleich wurde die Konzession zu einer Apotheke erteilt. Als im Jahre 1882 der erste lutherische Pastor nach 53jähriger Wirksamkeit von seiner Gemeinde schied, war sie bereits auf 4000 Glieder angewachsen, und da die Zahl noch weiter wuchs, gründete man in Ostrhauderfehn 1889 eine eigene Kirchengemeinde.

   Das sind in kurzen Zügen einige Bilder aus Rhauderfehns Vergangenheit. Die Gegenwart zeigt  uns eine in jeder Hinsicht blühende Kolonie. Sie ist, wie schon erwähnt, ohne jede Staats- oder sonstige Hilfe als einzig durch die Kraft und den Fleiß ihrer Bewohner entstanden. Bedenken wir, daß diese reiche Gegend vor reichlich 100 Jahren noch meist ödes Hochmoor war, da muß man dem zustimmen, was Pastor und Gemeinde an seinem und ihrem goldenen Jubiläumstage (1879) mit Jakob bekannt haben:

   "Ich  hatte nur diesen Stab, da ich über diesen Jordan ging, und nun sind wir zwei Heere geworden. Gebt Gott allein die Ehre."