Neben den Fehnsiedlungen
im Hochmoor und den sich schlechter entwickelnden Heide- und Moorsiedlungen ohne Kanal verschaffte der Landesausbau der alten Geestdörfer in Ostfriesland vielen besitzlosen Menschen die Möglichkeit, ihre Existenz zu
verbessern. Neben den Vollbauern, die als Inhaber der altberechtigten halben oder ganzen Herde die Zuständigkeit in Bauerschaft oder Kirchspiel unter sich ausmachten, gab es als Inhaber kleiner Hofstellen die
Warfsleute, die nicht zu den Interessenten gehörten. Sie waren im allgemeinen auch nicht zur Nutzung der gemeinen Weiden, der Meentelande oder Allmenden berechtigt. Daneben gab es die Möglichkeit, sich als Handwerker,
meist in Verbindung mit etwas Landbesitz und Tierhaltung, eine Existenz zu verschaffen. Wer völlig besitzlos war, mußte sich als Tagelöhner beim Bauern verdingen. Zwischen 1801 und 1843 waren
in Timmel als "Anbau- und Abbaustellen" bereits 9 Kolonistenhäuser mit 39 Seelen, wahrscheinlich in Anbindung an das Dorf, entstanden. Es ist nicht auszuschließen, daß man dazu auch die Häuser der Ostkommune
rechnete.
Nach der Aufteilung der "Gemeinheit der Westtimmeler Ost(er)weide", auch Timmelerfeld genannt, ergaben sich Möglichkeiten der Ansiedlung auf dem "Feld", d.h.
unkultiviertem, zumeist von Heide bewachsenem Land, das stellenweise auch von Hochmoor bedeckt war. Dieses Gebiet befand sich bisher im Besitz der Interessenten der Westkommune Timmel. Damit wuchs das Dorf Timmel in
östlicher Richtung auf Ulbargen zu.
Als erstes Haus in Timmelerfeld entstand das Schleusenhaus bei der früheren Schleuse und Wassermühle am ehemaligen Spetzerfehnkanal. Dieser Kanal war
zunächst von der Pächterin des Fürstlichen Vorwerks, Tatje Egberts, durch die Timmeler Ländereien vom Bagbander Tief aus in Richtung Ulbargen zur Entwässerung der Vorwerkswiesen angelegt worden. 1737 wurde der Kanal bis
zu den "Burkampen" an der östlichen Gemarkungsgrenze verlängert. Von dort aus setzte 1746dieVerfehnungvon Spet-zerfehn ein. Beim Schleusenhaus handelt es sich aber nicht um ein Kolonat. Als erster Siedler ist
Cornelius Franken anzusprechen. Er errichtete um 1850 auf einer Parzelle von 2 Diemat (gut l ha) an der heutigen Ostermoorstraße das erste Haus in diesem Gebiet. Er wagte sich als erster in das damals unkultivierte und
öde Heidfeld und setzte die landwirtschaftliche Nutzung in Gang.
Dazu heißt es am 12. April 1853: "Die Commune Timmel hat nichts dagegen zu erinnern gefunden, daß der Arbeiter Cornelius
Frerichs auf einem Stücke Landes an der geteilten West-Timmeler Oster-weide, welcher derselbe von Okke Ellen Wittwe und Schullehrer Arkona acquirirt hat ein Haus erbauet. Solches bescheiniget hiermit der Ortsvorsteher
Frerich J. Fokken (...) mit der gehorsamsten Bitte an Königl. Wöhllöbl. Amt Timmel, dem Cornelius Frerichs zu dem beabsichtigten Neubau die policeiliche Erlaubniß zu ertheilen."
Der
Gemeindevorstand R. Saathoff stellt Martens daraufhin eine Bescheinigung aus, des Inhaltes, er habe "sich seidher gut betragen".
Der Landrat fordert jetzt den Gemeindevorstand und den
Armenvorstand von Timmel zu einer "baldigen Erklärung" auf.
Diese begründen die Ablehnung des Bauerlaubnisscheines wegen der fehlenden Eintragung in das Grundbuchamt. Ferner verlangen
sie den Nachweis, dass Martens die Mittel zum Hausbau besitzt.
Daraufhin wird Martens nach Aurich ins Landratsamt vorgeladen. Es wird ihm mitgeteilt, dass die Gemeinde die vorherige Eintragung
ins Grundbuchamt nicht verlangen kann, wohl aber den Nachweis der Mittel zum Hausbau. Zwei Wochen später erscheint Martens und zeigt 300 Mark, "welche er angeliehen zu haben vorgiebt, als sein Eigenthum vor."
Als nächster Schritt fordert der Landrat Neupert die Gemeinde Timmel auf, das Gesuch unter den jetzigen Verhältnissen "zu überprüfen." Die Gemeinde antwortet "im weiteren Verfolg
des Weert Martens", der Verkäufer des Grundstücks sei noch im Grundbuch berichtigt, 300 Mark seien für eine "Arbeiterwohnung" nicht hinreichend und ohnehin nur geliehen, der angegebene Nebenverdienst
mache meist die Ernährung der Familie aus. Wenn aber keine Rechtsgründe gegen die Baugenehmigung sprächen, werde "im Timmelerfeld bald eine Arbeiter-Colonie sich ansiedeln, und die Wohnungen im Dorf werden auch
stets bezogen. Wir haben somit einen Zuzug von allen Volksklassen zu erwarten." Mit solchen Schulden zu beginnen, werden noch mehr fertigbringen. "Demnach sind wir gezwungen, den Bauschein entgültig
zu verweigern." Daraus spricht also einmal die Abneigung gegen zu starken Zuzug unvermögender Leute, aber auch die Sorge vor Schulden-macherei bei den Arbeitern.
Am 14. Mai
erscheinen alle Beteiligten vor dem Landrat, nämlich der Gemeindevorsteher Saathoff, der Armenvorsteher Socken und Martens. Es wird längere Zeit über das Baugesuch verhandelt. Martens überreicht 2 Bescheinigungen über
sein bisheriges einwandfreies Verhalten, bittet um weitere Untersuchung und bezeichnet als Sachverständigen den Landwirt Loet Hinrichs aus Westgroßefehn. Die beiden Vorsteher benennen den Landwirt Jürgen B. Hinrichs aus
Ulbargen. Aber auch dieser Schritt nützt Martens nichts. In einem Gutachten erklären die beiden Sachverständigen nämlich, daß Martens seine Familie auf dem kleinen Kolonate nicht ernähren kann, weil ihm zur Düngung die
Mittel fehlten, weil darauf ein Stück Vieh nicht gehalten werden könne, weil das Grundstück zu teuer angekauft und er sich alles Geld leihen müsse. Außerdem reichten 300 Mark zum Hausbau nicht. Zudem würde die
Beschäftigungsmöglichkeit des Weert Martens durch die größere Entfernung zum Dorfe beeinträchtigt werden.
Beide Sachverständige, selber Landwirte wie der Ortsund der Armenvorsteher, äußern also
die gleichen Bedenken und räumen dem Kolonisten keine Chance ein. Daraufhin sind die Möglichkeiten des Landrates, der Martens anscheinend helfen wollte, erschöpft. Er teilt am 21. Mai 1886 mit, dass er die
"Erlaubniß zum Neubau eines Hauses" nicht erteilen kann.
Fast alle Kolonisten in Timmelerfeldwaren Landarbeiter, die bei den Timmeler Hausleuten (Vollbauern) und Warfsleuten
arbeiteten und nach Feierabend oder an beschäftigungslosen Tagen den kargen Boden mit Karre und Spaten verbesserten und entwässerten. Sie wurden auch als Feld-jer bezeichnet. Ihre Parzellen kauften sie von den Bauern
der Timmeler Westkommune oder erhielten sie auf Erbpacht.
Am 9. März 1886 erscheint der Arbeiter Gerd Kohlbus beim Gemeindevorstand in Timmel wegen Erteilung eines Bauscheines. Kohlbus gibt an,
dass er seit 9 Jahren in Timmel wohnt und zwar 2 Jahre als Dienstknecht und 7 Jahre als Arbeiter. Er ist 30 Jahre alt, Vater von 5 Kindern und möchte Jetzt ein eigenes Hcimwesen gründen". Er hat vom Landwirt S.
Soeken jun. ein teilweise kultiviertes Stück Land in Timmelerfeld, etwa 2 Diemat groß, gegen eine Jahrespacht von 30 Mark übernommen und will dort ein kleines Haus bauen. Er hofft, zukünftig besser existieren zu können
als jetzt, da er zur Miete wohnt.
Da sein Gesuch an den Timmeler Gemeindevorstand abschlägig beschieden wird, obwohl er "notorisch unbescholten und arbeitsfähig" ist, tritt er wegen
eines Bauscheines an das Königliche Landratsamt in Aurich heran. Der Gemeindevorstand R. Saathoff und der Armenvorsteher S. W. Soeken begründen gegenüber dem Landratsamt ihre Ablehnung: "Das Colonat kann nicht
lebensfähig werden, weil das Grundstück noch ganz aus Urboden besteht, welches nur mit schwerer Arbeit und tüchtiger Dünger ertragsfähig werden kann. Das hierzu die Mittel gänzlich fehlen, geht wohl daraus hervor, das
eine Geldstrafe von 10 Mark von denselben nicht hat beigetrieben werden können, sondern durch 3 Tage Haft ist abgebüßt. Demnach fehlen auch die Mittel zum Hausbau. Wir beanspruchen unbedingt eine
Grundbuchsbenachrichtigung, woraus hervor geht, das Gerd Kohlbus Eigenthümer des Grundstückes ist, und Nachweis, das er die Mittel besitzt, um ein Haus zu bauen und das Land in Kultur zu setzen." Daraufhin lehnt
der Landrat das Gesuch ab.
Wenige Wochen später, am 13. April 1886 beschwert sich der "Landgebräucher" Weert Martens beim Landrat Neupert in Aurich wegen Verweigerung einer
Genehmigung zum Hausbau. Martens gibt an, er habe vom Mühlenbesitzer Pannenborg in Timmel ein bereits kuliviertes Grundstück aus der geteilten "Gemeinheit der Westtimmeler Ostweide" (Lüd: heute Eichenstraße)
zur Größe von 4 Morgen 13 Ruten (ca. l ha) für 825 Mark gekauft. Der Kaufpreis ist jedoch noch nicht entrichtet und wird mit 4 % verzinst. Martens will dort ein Haus für 300 Mark erbauen. Martens führt aus, dass sich
das Land in gut kultiviertem Zustand befindet und er dort mit Frau und beiden Kindern bei einigem Nebenverdienst gut leben kann. Martens und Frau wohnen "als Arbeitsleute" bereits seit 6 Jahren in Timmel und
zahlen für eine Kammer und 1/4 Diemath (1400 qm) "Grund" jährlich 57 Mark Miete. Sie würden aus den gekauften 4 Morgen und im eigenen Hause ihre Lage "bedeutend verbessern". Martens schließt mit der
Bemerkung, "daß wir uns eines unbescholtenen Rufes erfreuen."
Auch der Antrag des Arbeiters Jann Janssen Kuper aus Büschersfehn (Hatshausen) auf Bauerlaubnis wird von der Gemeinde und
dem Armenverband Timmel am 30. 12. 1882 abgelehnt und zwar in drastischeren Worten als bei Martens und Kohlbus, wohl weil Kuper nicht in Timmel wohnt. Das Kolonat sei nicht lebensfähig, die Kräfte gering, es fehle
gänzlich an Mitteln zum Düngerkauf und Hausbau. "Zweitens wird das angelegte Pachtkontrakt von uns als null und nichtig angesehen, (...) und drittens hat der Kuper vor gar nicht langer Zeit unfreiwilligen
Aufenthalt in einer Strafanstalt genossen, und mehrmals schon Unterstützung aus Armenmitteln empfangen."
Keine Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung hat der Kaufmann O. C. Onneken aus Westgroßefehn.
Ihm wird "bescheinigt, das gegen den Bau eines neuen Hauses in der Westtimmeler Osterweide von Seiten der Gemeinde nichts einzuwenden ist. Der Grundbesitz des Onneken hat einen Flächenraum von reichlich 16 Hectar,
fast ganz kultivirt." Das Haus wird jetzt von dem Landwirt Focke Andreeßen bewohnt. Wie kommt es zu diesen restriktiven Verhaltensweisen der Kommunen, die sich nach heutigen Maßstäben in die privatverhältnisse der
Kolonisten in hohem Maße einmischen?
Am 5. Oktober 1850 erhält die Königlich-Hannoversche Landdrostei folgende Anweisung: "Die Beschwerden, welche in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten
über das Colonistenwesen erhoben sind, veranlassen uns (...) diejenigen Grundsätze näher festzustellen und öffentlich bekannt zu machen, nach denen (...) bei Errichtung neuer An- und Abbauerstellen aus
Rücksicht auf das öffentliche Wohl in Zukunft zu verfahren ist."
In der Tat war es seit längerem in Moor- und Heidesiedlungen, wo sich mittellose Kolonisten auf zu kleinen Flächen
angesiedelt hatten, zur Entwicklung armseligster Existenzen gekommen, so dass die Kolonisten nicht leben und sterben konnten. Unterstützung mußte dann durch die Armenkassen der benachbarten
Bauerndörfer geleistet werden, die sich überlastet fühlten.
In § 6 heißt es: Deshalb darf "die Obrigkeit (...) die nachgesuchte Erlaubnis nicht erteilen, ohne daß der Vorstand der Gemeinde (...) des
Armenverbandes (...) über das (Bau)gesuch befragt (...) sind.
§ 7: Für die Beurtheilung der eingehenden Gesuche hat die Obrigkeit außer der Berücksichtigung der sicherheitspoli-zeilichen Gründe, die der
Errichtung von Gebäuden entgegenstehen können die Frage zu erwägen: ob die Vermut-hung gerechtfertigt ist, daß der An- und Abbauer sich und seine Familie auf der neuen Stelle zu ernähren im Stande ist.
§
8: Bei der Beurtheilung dieser Frage sind sorgfältig alle Umstände zu erwägen, von denen das gute Fortkommen des Besitzers bedingt werden kann. Dahin gehören außer den in seiner Person liegenden Gründen (Alter,
Moralität, Arbeitstüchtigkeit, Vermögen) insbesondere auch die vorhandenen Verkehrs- und Grund- und Bodenverhältnisse; bei An- und Abbauern, die sich als Tagelöhner oder Professionisten ernähren wollen:
Gelegenheit zu hinreichendem Verdienste; bei An- und Abbauern, die sich allein oder hauptsächlich von der Bewirthschaftung ihres Grundeigenthums nähren wollen; Größe des Grundbesitzes, Belastung desselben mit ständigen
Abgaben, Kulturfähigkeite des Bodens."
§ 11: "Zu den gesetzlichen Bestimmungen, wann eine Gemeinde zur Aufnahme eines Fremden als Gemeinde-Mitglied obrigkeitlich gezwungen werden kann, gehört
insbesondere auch, daß der Aufzunehmende seine tadellose Aufführung an dem früheren Aufenthaltsorte zuvor nachgewiesen hat."
Diese gesetzlichen Grundlagen gelten auch in der preußischen
Zeit und machen die Ansiedlung von Kolonisten mit geringen Mitteln unmöglich. Im Jahre 1887 wird jedoch ein neues Ansiedlungsgesetz im Lande Preußen erlassen, dass die Erteilung einer Baugenehmigung für Kolonisten
wesentlich erleichtert.
Jetzt muß neben baulichen Gesichtspunkten nur noch die Lage an einem Wege oder an einer Schifffahrtsstraße nachgewiesen werden, und Nutzer der Nachbargrundstücke dürfen
keine stichhaltigen Einwände vorbringen.
Am 26. März 1889 beantragt Weert Martens wiederum beim Landrat in Aurich einen Hausbauschein. "Ich besitze in der Gemarkung Timmel Kartenblatt 5
Parzelle 72 ein Stück s. g. Feldgrund in der Westtimmeler Weide im Osten groß 2 Het. 68 ar 80 qm und beabsichtige ein Wohnhaus in diesem Frühjahr darauf zu erbauen."
Am 23. 4. 89 wird "die Erlaubniß zum Hausbau an den Martens" vom Amt Aurich erteilt.
Quellen: StA Aurich. Rep 26 b. Nr. 596:Rep 26 b, Nr. 541: Gesetzsammlung für die Kgl. Preuß.
Staaten, 1887. Nr. 9225