COHEN

  

Die Cohens stammen aus den Niederlanden und waren schon im 18.Jahrhundert im Raum Oude Pekela ansässig. Dort wurde 1725 der spätere Schlachter Hartog Lazarus geboren, wahrscheinlich ein Sohn des Lesman Cohen. Er war verheiratet mit Esther Nochums (* ca. 1727 und + 29. 1. 1806 in Nieuwe Pekela), höchstwahrscheinlich eine Tochter von Nochum Daniels und Rachel Zadoks. Hartog konnte hebräisch schreiben und seine Frau Esther sogar hebräisch und niederländisch, wie aus Dokumenten hervorgeht. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Nochum Hartogs, Daniel Hartogs und Levie Hartogs. Hartog Lazarus starb am 23. 3. 1810 in Nieuwe Pekela.

Der Sohn Nochum Hartogs (3/4 im Juli 1761 in Pekela und + 5. 1. 1827 in Oude Pekela) war von Beruf Schlachter und Kaufmann. Er heiratete Frouke Benjamins de Groot (* im Juli 1769 in Wildervank und + 6. 4. 1834 in Oude Pekela), Tochter von Benjamin Heijes und Roosje Mozes. Das Ehepaar wohnte in Oude Pekela und hatte sechs Kinder: Lazarus, Mozes, Daniel, Samuel, Lea und Maria.

Der vierte Sohn, Samuel Nochums (3/4 12. 4. 1804 in Oude Pekela und + 28. 1. 1893 in Oude Pekela), war von Beruf "vleeshouwer", das heißt, er war nicht befugt, rituelle Schlachtungen vorzunehmen, sondern er durfte nur bereits geschlachtete Tiere verarbeiten. Er heiratete am 12. 10. 1830 in Oude Pekela Hendeltje Nochems de Levie (* im März 1808 in Oude Pekela und + 19. 5. 1888 in Oude Pekela), Tochter von Nochem Benjamins und Beile de Beer. Als Mozes Cohen allerdings auf dem Standesamt Rhaudermoor im Jahre 1907 den Tod seines Vaters Nochum anmeldete, gab er als Mädchennamen seiner Großmutter den Namen "Pinto" an.

Samuel und Hendeltje wohnten in Oude Pekela. Sie hatten neun Kinder, von denen drei aber tot geboren wurden. Am Leben blieben Nochum, Frouke, Benjamin, Hartog, Baruch und Betje. Sie alle trugen jetzt den Familiennamen Cohen. Von den sechs Kindern wanderten zwei nach Preußen aus: Frouke (* 14. 6. 1836 in Oude Pekela und + 18. 1. 1904 in Rhaudermoor) und Nochum (* 28. 2. 1831 in Oude Pekela und + 1. 9. 1907 in Rhaudermoor).

Nochum Cohen war wie sein Vater von Beruf auch "vleeshouwer" und dazu noch Kaufmann. Er konnte anscheinend in Oude Pekela kein Auskommen finden und versuchte, sich in den umliegenden Orten eine Existenz aufzubauen, denn er wechselte mehrfach seinen Wohnsitz. 1856 war er in Nieuwe Pekela gemeldet. Im selben Jahr, am 14.8.1856, heiratete er Flora de Vries (* 28. 8. 1836 in Winschoten und + 17. 2. 1870 in Oude Pekela). Die Hochzeit fand in Oude Pekela statt, doch 1861 wohnte das Paar in Winschoten. Als Flora 1870 starb, hielten sie sich in Oude Pekela auf, und 1871 zog Nochum nach Bellingwolde. Dort heiratete er am 11. 3. 1871 Sina Nathans, hier auch bekannt als Sientje Oppenheim (* 21. 1. 1839 in Boertange und + 22. 9. 1904 in Rhaudermoor). Sie war die Tochter von Mozes Nathans Oppenheim und Dina Telts Frank. Für Sientje war es auch die zweite Ehe. Sie hatte 1867 Simon de Pool geheiratet, doch diese Ehe muß ziemlich bald geschieden worden sein, denn Simon heiratete 1877 ein zweites Mal.

Das Ehepaar Nochum Cohen und Sientje Oppenheim wohnte bis 1875 in Bellingwolde. Dort wurden auch ihre beiden Töchter Dina (* 5. 2. 1872 und + 25. 10. 1904 in Rhaudermoor) und Hendeltje (* 12. 7. 1873) geboren. Bei der Geburt des Sohnes Mozes (* 8. 11. 1875 und + 3. 2. 1934 in Rhaudermoor) wohnte die Familie wieder in Oude Pekela. In ihren ersten Ehen hatten beide keine Kinder gehabt. Sientje Nathans Oppenheim scheint eine dominante Frau gewesen zu sein, denn die erste Tochter aus ihrer Ehe mit Nochum Cohen hieß Dina und wurde nach Sientjes Mutter benannt und der einzige Sohn Mozes nach ihrem Vater. Die zweite Tochter Hendeltje erhielt den Namen von Nochums Mutter.

In den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts wurden die Perspektiven für eine ausreichende wirtschaftliche Existenzgrundlage für die jüdischen Schlachter und Viehhändler im Raum der Pekela's immer schlechter. Zahlreiche Familien wanderten nach "Preußen", d.h. in das neue deutsche Kaiserreich aus. Dort waren die Juden de jure seit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 gleichberechtigt.

1879 entschlossen sich auch Nochum Cohen und Frau Sientje, mit ihren drei Kindern in Ostfriesland ihr Glück zu suchen. Die Initiative ging wahrscheinlich von Nochums Schwester Frouke Cohen und ihrem Ehemann Gumpel de Levie aus. Die hatten schon Verwandte in Ostfriesland: Gumpels Bruder Benjamin de Levie war bereits 1875 mit seiner Familie nach Stickhausen ausgewandert, und sein Bruder Salomon de Levie wohnte seit 1878 mit seiner großen Familie in Ihrhove und hatte sich dort schon ein Haus gekauft.

Während Frouke und Gumpel de Levie mit ihrer großen halbflüggen Kinderschar sich anscheinend gleich in Rhaudermoor niederließen, wie aus dem Adressbuch von 1880/81 zu ersehen ist, haben Nochum und Sientje mit ihrer Familie angeblich zuerst in Ostrhauderfehn gewohnt, und zwar an der 1. Südwieke in dem Haus hinter Rösko Prahms Geschäft. Das erzählte jedenfalls mein Großvater Johann Hensmanns (* 5. 10. 1872 und + 30. 7. 1964). Er sei mit Mozes Cohen zur Schule gegangen, in die alte Schule neben dem Untenender Friedhof in Ostrhauderfehn. Auch die Namen der beiden Schwestern waren ihm geläufig. Sie waren in seinem Alter und sind wohl in der gleichen Klasse gewesen.

Auch in späteren Jahren, als Erwachsene, kehrten mein Großvater und Mozes stets die alten Bekannten heraus, wenn sie sich trafen. Mozes fragte zum Beispiel: "Hest noch wat in Handel?" Johann entgegnete dann meistens: " Bloot Swien', ober dor deist du ja nich mit." So hat jedenfalls mein Vater Anton Hensmanns (* 27. 6. 1905 und + 7. 6. 1996) wiederholt berichtet.

Die Tochter Hendeltje Cohen muss nach Beendigung ihrer Schulzeit als Dienstmädchen in Amsterdam gearbeitet haben, denn 1893, am 21. September, wurde dort ihr Sohn Hermann geboren, der auch 1894 noch in Amsterdam gemeldet war. Da er einen "deutschen" Vornamen trug, stammte sein Vater vielleicht aus Deutschland oder Hendeltje hatte einfach Gefallen an dem damals in Deutschland modischen Vornamen gefunden.

Leider ist nicht mehr festzustellen, wann die Familie Cohen nach Rhaudermoor zog, da Meldebücher aus jenen Jahren nicht vorliegen. Im Hauptdebitoren-Buch des Westrhauderfehner Kaufhauses C.A.J. Hagius Sohn ist auf der Seite 609 zu lesen, dass ein Nathan Cohen aus der Rhauderwieke in den Jahren 1894 und 1896 dort Waren eingekauft hat, die er 1897 inklusive 5% Zinsen bezahlte. Da es keine zweite Familie Cohen auf dem Fehn gab, kann davon ausgegangen werden, dass Herr Nochum und Frau Sientje um diese Zeit schon in der Rhauderwieke wohnten.

Im Jahre 1904 jedenfalls, als Frau Sientje (+ 22. 9.) und Tochter Dina (+ 25. 10.) innerhalb weniger Wochen starben, wohnten sie mit Sicherheit dort, denn auf dem Grabstein ist als Todesort Westrhauderfehn angegeben. Um diese Zeit muss Mozes auch geheiratet haben. Seine Frau, Klara Neumann (* 30. 12. 1880 in Stralsund), war die Tochter des Zigarrenfabrikanten Albert Neumann und der Laura geborene Posthausen aus der Ossenreyerstraße 42 in Stralsund. 1882/83 zogen die Neumanns von Stralsund weg. Wo und wann Mozes und Klara genau geheiratet haben, wissen wir nicht.

Am 1. September 1907 starb auch Nochum Cohen. Er wurde wie seine Frau Sientje und Tochter Dina auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beigesetzt. Sein Grabstein ist während der NS-Zeit leider stark beschädigt worden, so dass die Schriftzeichen darauf nicht mehr zu erkennen sind. Frau Sientje und Dina bekamen einen gemeinsamen Grabstein, der in unmittelbarer Nähe zu finden ist.

Nach dem Tode des Vaters Nochum war Mozes jetzt das Familienoberhaupt. Er bewohnte ein älteres Fehntjer Haus, das schräg gegenüber der Jürgenaswieke längs an der Rhauderwieke stand. Im Adressbuch des Landkreises Leer von 1910 wird er als Viehhändler in der Rhauderwieke aufgeführt und im Adressbuch von 1926 als Schlachter, das heißt, er hatte die Lizenz zu rituellen Schlachtungen. Er handelte überwiegend mit Kleinvieh, also mit Kälbern, Schafen, Lämmern und Geflügel, und er verkaufte auch Schaffleisch und Schafwolle, wie aus den Anzeigen im Generalanzeiger vom 16. 8. 1922 und vom 11. 6. 1924 zu ersehen ist. Die bestellten Portionen transportierte er in einem Korb, der vorne auf seinem Fahrrad befestigt war, wenn er seine Kunden belieferte. Auch wenn er zu den "kleinen Leuten" in der Rhauderwieke zählte und er für sein bescheidenes Einkommen unermüdlich tätig sein musste, besaß er doch ein eigenes Haus und blickte hoffnungsvoll in die Zukunft.

Mozes und Klara Cohen hatten zwei Kinder, die beide in Rhaudermoor geboren wurden: Bianka (* 6. 11. 1906) und Walter Nochum (* 13. 9. 1910). Bianka wurde am 31. März 1913 unter der Verzeichnisnummer 88 in der Volksschule Rhauderwieke eingeschult. Registriert ist dort auch das Datum ihrer ersten Pockenschutzimpfung vom 6. 6. 1907. Als Beruf des Vaters ist "Händler" eingetragen. Auf einem Schulbild der Schule Rhauderwieke aus dieser Zeit sieht man Bianka mit einer weißen Haarschleife inmitten ihrer Klassenkameraden.

Walter Cohen wurde am 26. April 1916 unter der Nummer 129 in das Schülerhauptverzeichnis der Volksschule Rhauderwieke eingetragen. Als Datum seiner ersten Pockenschutzimpfung ist der 6. 6. 1912 angegeben. Am 23. 3. 1921 wurde Walter laut Bemerkung im Schülerhauptverzeichnis zum Besuch der Privatschule in Westrhauderfehn entlassen.

Die "Höhere Privatschule" in Westrhauderfehn war im Jahre 1908 als eine Art Vorschule des Gymnasiums und des Lyzeums gegründet worden. Solche Vorschulen gab es damals in vielen größeren Orten auf dem Lande, um den Kindern den beschwerlichen Weg zur höheren Schule oder gar die frühe Trennung von der Familie so lange wie möglich zu ersparen. Voraussetzungen für den Besuch einer solchen Einrichtung waren eine erfolgreiche Aufnahmeprüfung und die Zahlung eines monatlichen Schulgeldes. Die "Höhere Privatschule" in Westrhauderfehn wurde im Jahre 1924 in eine staatliche Gemeindemittelschule umgewandelt und ist heute unter dem Namen "Kreisrealschule Overledingerland" bekannt.

Aus dem Jahre 1926 gibt es ein Foto von der Untertertia mit Konrektor Siebert. Leider sind nur die Namen von einigen wenigen Mädchen dieser  Aufnahme überliefert. Der kleine Junge rechts neben dem Konrektor mit der Schülermütze und dem verschmitzten Lachen könnte Walter Cohen sein. Der pensionierte Schulleiter von Möhlenwarf und Hobbykünstler Heinrich Reents, der aus Ostrhauderfehn stammte und in den zwanziger Jahren auch diese Schule besucht hat, konnte sich unlängst noch an seinen Mitschüler Walter Cohen erinnern.

Mozes Cohen hatte damals sicher Großes mit seinem Sohn Walter vor, der sollte es einmal besser haben als er. Ungeachtet dessen führte er ihn von der Pike auf in das Geschäft des Viehhandels ein. Ein Foto, aufgenommen um 1930 vor dem Plümerschen Gasthof "Deutsches Haus" in der Rhauderwieke, zeigt Vater Mozes und Sohn Walter inmitten von Viehhändlern und anderen honorigen Leuten. Walter Cohen war eine elegante Erscheinung, ein charmanter Gesprächspartner sowie ein ausgezeichneter Tänzer und deshalb in der damaligen Damenwelt sehr beliebt.

Doch als 1933 die NS-Zeit begann, mussten alle Zukunftsträume begraben werden. Es blieb Walter schon fast gar nichts anderes mehr übrig, als in das Geschäft seines Vaters einzusteigen, denn von nun an waren jüdische und ehemals jüdische Menschen Einwohner zweiter Klasse, die kaum noch Perspektiven hatten.

Für sie änderte sich bald der ganze Alltag. Bianka Cohen hatte zu dieser Zeit das Elternhaus bereits verlassen. Sie war 1933 schon 26 Jahre alt und arbeitete in Aurich. Sie wohnte in der Fockenbollwerkstraße 11 laut einer Liste des Ordnungsamtes der Stadt Aurich über die 1933 in Aurich wohnhaft gewesenen Juden. Sie meldete sich am 12. 6. 1933 nach Enschede/Holland ab. Dort wurde sie sesshaft und heiratete am 19. Dezember 1940 im Alter von 34 Jahren während der deutschen Besatzung Leopold de Leeuw (* 23. 6. 1888 in Enschede). Kinder hatten sie nicht. Von Enschede aus kamen sie über das Lager Westerbork nach Auschwitz, wo beide am 12. 10. 1942 umgebracht wurden.

Mozes Cohen hatte schon vor der NS-Zeit Ärger mit den Behörden wegen seines Hauses. Es war schon älteren Datums und stand längs an der Straße mit der Giebelseite Richtung Westrhauderfehn. Auf einem Foto der Rhauderwieke von Heiko Athen um 1900 kann man nur die hohen Bäume vor dem Giebel erkennen, die den Blick auf das alte Haus selbst verdecken. Im Gebäude selbst war es wegen der dichten Baumkronen ziemlich dunkel. Therese Luikenga fürchtete sich als Kind immer ein wenig, wenn sie zu Cohens ins Haus kam und durch den düsteren Flur ging.  

In den dreißiger Jahren plante die Gemeinde Rhaudermoor, den heutigen Neuen Weg, damals "Zeegenstraat" genannt, der vom Deich kommend in der Nähe der Kleinbahnschienen nach Südwesten abbog und dem Verlauf der heutigen Bahnhofstraße folgte, bis zur Rhauderwieke in voller Breite zu verlängern, denn bis dato war hier nur ein Trampelpfad vorhanden, "Mozes-Otto-Weg" genannt. Just an dieser Stelle stand nun Mozes Cohens Haus im Weg.   
                                                          
Die Gemeinde wollte ihm Haus und Grundstück abkaufen und plante, ein  Enteignungsverfahren in Gang zu setzen, als er nicht dazu bereit war.  Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, wurde auf die Rechte der einzelnen Bürger keine Rücksicht mehr genommen, erst recht nicht auf die Rechte eines jüdischen Bürgers. Nun ging alles sehr schnell. Schon im Oktober 1933 wurden die Arbeiten für den Ausbau ausgeschrieben. Mozes Cohen blieb nichts mehr übrig, als am Vormittag des 3. 2. 1934, einem Sabbat, seine Unterschrift unter einen Kaufvertrag zu setzen. Er war so verzweifelt, dass er sich am Nachmittag desselben Tages  auf dem Dachboden seines Hauses umbrachte, bevor er es endgültig verlassen musste. Er sah sein Lebenswerk und seine Existenzgrundlage zerstört. Er hatte mit seinen knapp sechzig Jahren wohl keine Hoffnung mehr auf eine Perspektive für einen Neuanfang unter den herrschenden politischen Voraussetzungen.

Als die Nachbarschaft davon erfuhr, waren alle sehr bestürzt. Selbst die Heimatzeitung brachte zwei Tage später eine kurze Meldung. Heinz Bergenthal erinnerte sich, dass die Nachbarn auch die Bergung des Leichnams übernahmen, da der Sohn Walter ja zu den Kohanim gehörte und aus rituellen Gründen nicht mit Toten in Berührung kommen durfte.

Da Mozes Cohen am heiligen Sabbat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte, was in der jüdischen Tradition als schweres Vergehen gegen Gott angesehen wird, kamen bei seiner Beerdigung am 6. Februar 1934 eigens für diesen Anlass bestimmte Riten zur Anwendung: Mehrere Zeitzeugen berichten übereinstimmend, dass etliche Mitglieder der Trauergemeinde auf dem Weg zum Friedhof den Sarg an mehreren Stationen mit Reisigruten schlugen, zum Beispiel, als er vom Wagen in die Kleinbahn getragen wurde, sozusagen als Strafe für den Selbstmord. Mozes Cohen wurde auf dem Friedhof in Leer am Schleusenweg beerdigt. Auf seinem Grabdenkmal sind die beiden segnenden Hände eingemeißelt, die daran erinnern sollen, dass er einer der Kohanim war, ein Nachfahre Aarons, und somit aus dem Priestergeschlecht stammte (Grab Nr. 226).

Nach Mozes' Tod zogen Frau Klara und Walter Nochum in das Gumpertzsche Haus auf der anderen Seite der Rhauderwieke. Hermann Gumpertz hatte zu dieser Zeit Deutschland schon verlassen und war mit seiner Familie nach Holland geflüchtet. Walter versuchte, so gut es ging, das Viehhandelsgeschäft seines Vaters weiterzuführen. In den Jahren 1935/36 hatte er von dem Auktionator Conrad Graepel noch neun Hektar Weideland am Rajen gepachtet, das berichtete 1988 jedenfalls die ehemalige Angestellte des Auktionators, Dini Schustereit. Außerdem hatte Walter in Ostrhauderfehn eine Braut, Mimi Rull, die er nach den neuen "Nürnberger Gesetzen" zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 jedoch nicht mehr heiraten durfte, da sie keine Jüdin war.

Aber die Geschäfte gerade der jüdischen Kleinviehhändler kamen mehr und mehr zum Erliegen. In einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung vom 20. 7. 1935 wurde die Bevölkerung noch einmal gezielt darauf aufmerksam gemacht, dass der Viehhändler Walter Cohen in der Rhauderwieke ein Jude sei, mit dem ein "Deutscher" keine Geschäfte machen sollte. Frau Klara und Sohn Walter muss jedenfalls nach und nach klar geworden sein, dass sich die Verhältnisse für sie in Deutschland so bald nicht bessern würden. Durch den Kontakt mit Tochter und Schwester Bianka aus Enschede gewannen sie sicherlich einen detaillierteren Einblick in die Hintergründe der deutschen Politik als es den meisten Einheimischen aufgrund der Gleichschaltung der Medien hier möglich war. Jedenfalls entschlossen sich Walter Cohen und seine Mutter Klara, nach Holland zu ziehen. Probleme mit einem Einreisevisum hatten sie nicht, denn sie besaßen beide die niederländische Staatsangehörigkeit. Trotzdem bedurfte es noch eines längeren "Papierkriegs", vor allem wegen der Devisensperre, wenn man legal ausreisen wollte.

Klara Cohen meldete sich am 3. 9. 1937 nach Emmen/Holland bei der Gemeinde Rhaudermoor ab. Walter Nochum folgte ihr dorthin am 21.3. 1938, ein halbes Jahr vor der Pogromnacht am 9. 11. 1938. Der Taxenunternehmer Jakob Schuver aus Westrhauderfehn soll ihn mit einem Mietwagen bis zur holländischen Grenze gebracht haben. Ob er trotz der Devisensperre und der "Auswanderungsabgabe" von dem Cohenschen Hab und Gut noch ein wenig nach Emmen hinüberretten konnte, ist nicht bekannt.

Während der NS-Besatzung wurde Walter Cohen wie seine Schwester Bianka und sein Schwager Leopold über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort am 30. 9. 1942 umgebracht. Ehemalige Bekannte aus dem hiesigen Raum, so erzählte mein Vater Anton Hensmanns immer wieder, sollen ihn in einem Waggon auf dem Abstellgleis an der Reimerstraße in Leer damals gesehen haben. Über das weitere Schicksal von seiner Mutter Klara Cohen geb. Neumann ist nichts bekannt. Sie ist anscheinend noch in Emmen gestorben.




Zeichenerklärungen

*   geboren

 oo  verheiratet

+   gestorben

#   begraben



Bourtanger

Weinberg

Grünberg

Cohen

de Levie

Gumpertz

BenBrith


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 Familie Cohen - Übersicht 

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   Die Familie Cohen stammt aus dem Gebiet der Pekela's in Holland
und lässt sich dort bis ins achtzehnte Jahrhundert nachweisen.
 Sie wird dort als Linie COHEN I geführt.             

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A.

Nochum Cohen                    I. oo               Flora de Vries  
* 28.  2. 1831                  14. 8. 1856         * 28.  8. 1836  
  Nieuwe Pekela                 Oude Pekela           Winschoten    
+  1.  9. 1907                                      + 17.  2. 1870  
  Rhaudermoor                                         Oude Pekela  
# Leer/Am Schleusenweg Nr.178                                         
  Inschrift zerstört                                                   

                             II. oo         Sina Nathans Oppenheim  
                             11. 3. 1871    * 21. 1. 1839 Boertange
                             Bellingwolde   + 22. 9. 1904 Rhaudermoor
                                            # Leer/Am Schleusenweg
                                              Nr. 173                 


Nochum Cohen war der Sohn des "vleeshouwers" Samuel Nochums
 und der Hendeltje Nochems aus Oude Pekela.
 Er wuchs mit fünf Geschwistern auf
und war von Beruf Kaufmann und "vleeshouwer".
 Mit seiner ersten Frau Flora wohnte er in Winschoten.
 Die Ehe blieb anscheinend kinderlos.
Nach Frau Floras Tod zog Nochum Cohen 1871 nach Bellingwolde,
 wo er Sina Nathans Oppenheim heiratete.
 Für Frau Sina war es ebenfalls die zweite Ehe,
 denn sie war vorher mit Simon de Pool verheiratet gewesen.
 Auch sie hatte keine Kinder aus ihrer ersten Ehe.
Das Ehepaar wohnte bis 1875 in Bellingwolde,
wo ihre beiden Töchter Dina und Hendeltje geboren wurden.
 1879, nach wenigen Jahren in Oude Pekela,
 wo Sohn Mozes zur Welt kam,
wanderten sie nach Ostfriesland aus.
Sie wohnten vermutlich zuerst in Ostrhauderfehn / 1. Südwieke,
 in dem Haus hinter den Geschäft von Rösko Prahm,
und zogen dann ca. 1890 nach Rhaudermoor in die Rhauderwieke,
 wo auch Nochums Schwester Frouke wohnte,
die mit Gumpel de Levie verheiratet war.
Den Lebensabend verbrachte das Ehepaar beim Sohn Mozes
 und seiner Familie in der Rhauderwieke.

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Eltern und Geschwister Oppenheim:  

Die Oppenheims waren in dem Gebiet Nieuweschans/Bellingwolde zu Hause
 und stellten in fast allen Generationen einen Synagogenvorsteher.

Mozes Nathans Oppenheim            oo           Dina Telts Frank  
*             Nieuweschans                      *      Boertange            
+ 18. 1. 1873 Bellingwolde                      +      nach 1873      
#      Nieuweschans Nr. 12    
     
Von Sina sind drei verschiedene Namen überliefert,
nämlich Sina, Sintje und Gesine.
Auch gibt es zwei unterschiedliche Geburtsdaten:
 In der Familienübersicht COHEN I gibt E. Schut
 als Geburtstag den 21. 1. 1839 und als Geburtsort Boertange an;
auf ihrem Grabstein in Leer sind der 22. 1. 1843 als Geburtstag
und Bellingwolde als Geburtsort eingemeißelt.
Sina heiratete in erster Ehe 1867
 Simon de Pool (* 21. 10. 1835 Oude Pekela und + 5. 12. 1910 Onstwedde),
 Sohn des Hiskia Mozes de Pool aus Oude Pekela
und der Esther Mozes Israels aus Jever.
Diese Ehe muss geschieden worden sein,
denn Simon de Pool heiratete am 26. 7. 1877 ein zweites Mal
 und zwar Hinderina Cohen aus Sappemeer.

Über eventuelle Geschwister von Frau Sina ist nichts bekannt.        

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Kinder (B)

B.1.

Dina Cohen    
*  5.  2. 1872 Bellingwolde   
+ 25. 10. 1904 Rhaudermoor  
# Leer / Am Schleusenweg Nr. 173

Dina wurde nach ihrer Großmutter mütterlicherseits,
 Dina Frank, benannt.
Sie verstarb im jugendlichen Alter
 von zwölf Jahren rund vier Wochen nach ihrer Mutter.
 An beide erinnert ein gemeinsamer Grabstein.

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B.2.  

Hendeltje Cohen  
* 12.  7. 1873 Bellingwolde  
+                            

Hendeltje wurde nach ihrer Großmutter väterlicherseits,
Hendeltje Nochems, benannt.
Sie wohnte 1893 in Amsterdam.
Dort wurde am 21. 9. 1893 ihr Sohn Hermann geboren.
 Über ihre Heirat ist nichts bekannt.   

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B.3.  

Mozes Cohen                       oo         Klara Neumann    
*  8. 11. 1875 Oude Pekela                   * 30. 12. 1880 Stralsund
+  3.  2. 1934 Rhaudermoor                   +             
   Nr. 3/1934 StAmt Rhaudermoor               
#  Leer/ Am Schleusenweg Nr. 226              

Mozes wurde nach seinem Großvater mütterlicherseits,
 Mozes Nathans Oppenheim, benannt.
In den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts
 heiratete er Klara Neumann,
die Tochter des Zigarrenfabrikanten Albert Neumann
und der Laura geborene Posthausen.
 Das Ehepaar Cohen hatte eine Tochter und einen Sohn.
Mozes Cohen ist 1910 als Viehhändler
und 1926 als Schlachter in der Rhauderwieke
 im Adressbuch des Kreises Leer verzeichnet.
 Er war 1934 gezwungen,
sein Haus an die Gemeinde zu verkaufen,
weil es abgerissen werden sollte,
um einer Verbreiterung
des Neuen Wegs in Rhaudermoor Platz zu machen.
 Nach der Unterzeichnung des Vertrags
sah er keine Lebensperspektive mehr
und brachte sich am gleichen Tag durch Erhängen um.
Frau Klara meldete sich am 3. 9. 1937 nach Emmen/Holland ab.
 Da ihr Name nicht in den Gedenkboeken der Oorlogsgravenstichting
 des Lagers Westerbork verzeichnet steht,
 ist davon auszugehen,
dass Klara Cohen geborene Neumann
noch vor der Deportation in Emmen verstorben ist.        

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Enkelkinder (C)

Zu B.3.

C.1.

Bianka Cohen                     oo           Leopold de Leeuw   
*  6. 11. 1906 Rhaudermoor   19. 12. 1940     * 23.  6. 1888 Enschede             
+ 12. 10. 1942 Auschwitz       Enschede       + 12. 10. 1942 Auschwitz              

Bianka wurde am 31. März 1913
in die Volksschule Rhauderwieke aufgenommen.
 Später arbeitete sie in Aurich
und wohnte dort in der Fockenbollwerkstraße 11.
 Von da meldete sie sich am 12. 6. 1933
 nach Enschede/Holland ab.
Im Jahre 1940 - schon während der deutschen Besatzungszeit
- heiratete sie dort Leopold de Leeuw.
Kinder hatte das Ehepaar nicht.
Leopold de Leeuw und Frau Bianka
wurden im Lager Westerbork interniert
und zusammen nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

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C.2.  

Walter Nochum Cohen     
* 13.  9. 1910 Rhaudermoor  
+ 30.  9. 1942 Auschwitz  

Walter Cohen wurde am 26. April 1916
in die Volksschule Rhauderwieke eingeschult.
 Er wechselte am 23. 3. 1921
 zur Höheren Privatschule in Westrhauderfehn,
 der heutigen Kreisrealschule Overledingerland.
 Er wurde später Viehhändler
wie sein Vater und übernahm nach dessen Tod den Betrieb.
 In der Hetzbeilage der OTZ vom 20. 7. 1935
wird er als jüdischer Viehhändler in der Rhauderwieke genannt.
 Zu der Zeit hatte er vom Auktionator Conrad Graepel
 in Westrhauderfehn noch neun Hektar Weideland gepachtet.
Walter Cohen hatte eine Braut in Ostrhauderfehn, Mimi Rull,
die er aber wegen der "Nürnberger Gesetze"
 nicht mehr heiraten durfte.
Am 21. 3. 1938 meldete er sich nach Emmen/Holland ab,
 wo seine Mutter schon wohnte.
 Er wurde 1942 über das Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert
 und dort umgebracht.
Bekannte aus seinem ehemaligen Heimatort
 sollen ihn auf dem Bahnhof in Leer in einem Waggon
 des Deportationszuges erkannt haben.
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Die Daten dieser Familienübersicht entstammen folgenden Quellen:

Grab- und Gedenksteine auf dem jüdischen Friedhof Leer

Standesamt der Gemeente Enschede / Archiv

Standesamt Stralsund / Archiv

Standesamt Rhauderfehn / Geburts- und Sterberegister

Einwohnermeldeamt Rhauderfehn

Schulmuseum Folmhusen / Archiv

Gedenkboeken der Oorlogsgravenstichting des Lagers Westerbork

Aus der Geschichte der Auricher Judengemeinde 1592 - 1940, Aurich 1975

E. Schut, Geschiedenis van de Joodse gemeenschap in de Pekela's 1683 - 1942, Groningen 1991

Joodse begraafplaatsen in groningen en oost-friesland, Groningen 1977

In den beiden letztgenannten Werken sind noch Daten der früheren Generationen der Familien COHEN und OPPENHEIM zu finden.



Bourtanger

Weinberg

Grünberg

Cohen

de Levie

Gumpertz

BenBrith





Zeichenerklärungen

*   geboren

 oo  verheiratet

+   gestorben

#   begraben





adventisten

apostolisch

EC

juden

mennoniten

methodisten

mormonen

muslim

pfingstler

scientology

zeugen