WEINBERG / GRÜNBERG Die
Westrhauderfehner Weinbergs stammen aus dem Raum zwischen Wiehengebirge, Dümmer und Osnabrück. Die übrigen Weinberg-Familien im hiesigen Raum sind mit ihnen nicht näher verwandt. Schon bei der
Erfassung der jüdischen Familien des Landdrosteibezirks Osnabrück im Jahre 1844 gab es in der Synagogengemeinde Buer einen Baruch Zacharias Weinberg, der einem Haushalt mit drei männlichen und fünf weib- lichen Personen
vorstand. Ein Mitglied dieser Familie war offenbar der Schlachter David Weinberg. Er wohnte mit seiner Frau Julie geb. Sil- bermann, die aus Lemförde am Dümmer stammte, in diesem kleinen
jüdischen Zentrum am Wiehengebirge. Die Weinbergs hatten mindestens acht Kinder: Emma, Levy, Minna, Israel, Heinemann, Baruch, der sich später Bernhard nannte, Alfred und Jakob.
Nach dem Ausbau der Eisenbahnlinie Rheine - Norddeich in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts sahen sich zahlreiche Juden aus dem "Münsterschen" im nördlichen Emsland und in Ostfriesland um,
und einige faßten hier Fuß. So auch die Weinbergs. Tochter Emma heiratete den Schlachter und Viehkaufmann Levie Löwenstein aus Weener, Westerstraße 30. Familie Bernhard Weinberg Anläßlich der Besuche bei ihrer Schwester in
Weener müssen die jüngeren Weinberg-Brüder Bernhard und Alfred dort die Familie Grünberg aus der Neuen Straße 49 kennengelernt haben. Der Produktenhändler Abraham Hartog Grünberg hatte vorher mit seiner Frau Frauke geb.
Cohen und den zehn gemeinsamen Kindern in Jemgum gewohnt, betrieb aber nun mit seinen erwachsenen Söhnen einen Fell-, Schrott- und Viehhandel in der Neuen Straße 47 in Weener (später: Kommerzienrat-Hesse-Straße).
Bernhard Weinberg heiratete am 28. Oktober 1906 in Weener die Grünberg-Tochter Rahel. Trauzeugen waren sein Schwiegervater Abraham H. Grünberg und sein Schwager Levie Löwenstein. Das junge Ehepaar muß zunächst in Buer
gewohnt haben, denn dort wurde am 4.3.1907 die Tochter Caroline Lilly geboren. Doch der Seniorchef der Firma "A. Grünberg
Söhne" in Weener legte Wert darauf, daß seine Kinder sich möglichst in seiner näheren Umgebung niederließen, damit sie auch weiterhin geschäftlich zusammenarbeiten konnten. Da abzu- sehen war, daß Frau Rahels vier
Schwestern Rosa, Maria, Caroline und Flora, sowie die fünf Brüder Hermann, Aron, Philipp, Max und Wilhelm auch bald eigene Familien gründen würden, sah sich Schwiegervater Abraham Grünberg nach Möglichkeiten um, sein
Geschäft zu erweitern. Als neuen Standort guckte er sich Westrhauderfehn aus. Dort war ein Eisenbahnanschluß (Kleinbahn mit Normal- spur) in der Planung, und in dem aufstrebenden Ort gab es
noch keinen jüdischen Händler für Alteisen und Felle, son- dern nur die Viehhändler und Schlachter de Levie und Cohen. Es lohnte sich also, dort zu investieren. Der Schmiedemeister Johann Dirk
Brunsema verkaufte ihm einen Bauplatz mit einem Stück Land in einer hervorra- genden Lage am Untenende. Grünberg und Weinberg bauten darauf im Jahre 1910 ein modernes geräumiges Haus im Fehntjer Stil mit einem großen
Hinterhaus. Dorthin zogen Bernhard Weinberg und Frau Rahel mit Tochter Lilly und Philipp Grünberg, der wie sein Schwager Bernhard Weinberg zusätzlich zum Fell- und Schrotthandel noch als
Viehkaufmann tätig war. Im Jahre 1915, mitten im ersten Weltkrieg, bot Bernhard Weinberg zum Beispiel mittels einer halbseitigen Anzeige im Anzeiger für das Overle- dingerland einen ganzen Transport ostpreußischer
Pferde zum Verkauf an, bar und auf Zahlungsfrist. Pferde waren damals gesucht, denn sie wurden im Krieg massig verschlissen.
Die Familie war bald gut etabliert. Frau Rahel beschäftigte ein Dienstmädchen wie damals in Geschäftshaushalten üblich, und Tochter Lilly hielt sich gerne bei den Nachbarn Brunsema auf, die eine Schmiede
hatten, und deren halb- flügge Töchter bei den Weinbergs die Rolle der "Sabbat-Gojim" übernahmen, d.h., sie verrichteten alle notwendigen Arbeiten wie Feuer machen, Licht ein- und ausschalten und Essen
aufwärmen, die Weinbergs selbst am Sabbat nicht erledigen durften. Im Jahre 1917 kam Bernhard Weinbergs Mutter Julie, die schon seit
vielen Jahren verwitwet war, für ein halbes Jahr von Buer nach Westrhauderfehn, zu welchem Anlaß sie sich ordnungsgemäß beim Einwohnermeldeamt an- und ab- meldete, denn so war es während des I.Weltkrieges
unkomplizierter, die nötigen Lebensmittelkarten zu bekommen. Ein Jahr nach dem Ende des Krieges, am 29.11.1919, starb Schwiegervater Abraham Hartog Grünberg in Weener. Die Firma "A.
Grünberg Söhne" wurde neu organisiert und in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt, wie aus einer Grundbucheintragung von 1924 zu ersehen ist. Aron Grünberg wohnte mit seiner Familie
in Weener, Am Hafen 9. Hermann Grünberg zog nach seiner Heirat mit Martha Schönthal aus Norden in die Feldstraße 8 (heute: Risiusstraße). Philipp Grünberg verheiratete sich mit Angelica Schaap aus Lathen und ließ sich
in Leer in der Gartenstraße (später: Reimerstraße) nieder und eröffnete am 18.1.1921 eine Viehhandlung. Wilhelm Grünberg, der 1920 für ein paar Wochen in Westrhauderfehn wohnte, zog nach Jhrhove, wo er sich gut ein Jahr
aufhielt. Am 1.3.1922 meldete er sich in Leer an und heiratete im November des gleichen Jahres Henny Schaap aus Lathen. Das Paar übernahm das Haus in der Bremer Straße 14a von Willy Cohen, der mit Maria Grünberg
verheiratet war. Leer war damals für Viehhändler sehr attraktiv, denn dort entwickelte sich zu jener Zeit der größte wöchentliche Viehmarkt in ganz Deutschland. Wenn man auf diesem Berufsfeld
erfolgreich sein wollte, war es vorteilhaft, dort auch zu wohnen. Bei der Witwe Frauke Grünberg geborene Cohen in der
Neuen Straße 49 in Weener verblieb bald nur noch der ledige Sohn Max, denn Flora Grünberg, Rahels jüngere Schwester, heiratete am 11. Januar 1920 in Weener Bernhard Weinbergs Bruder Alfred, der aus dem Krieg
zurückgekehrt war und schon im November 1919 von Buer nach West- rhauderfehn zog, um dort die reibungslose Übergabe des Geschäfts abzuwickeln, das er mit Frau Flora übernehmen wollte. Dafür zog Bernhard Grünberg mit
Frau Rahel und Tochter Lilly 1920 dann von Westrhauderfehn nach Weener in die Neue Straße 51 neben das schwiegerelterliche Haus. Das
Geschäft in der Neuen Straße 47, Telefon-Nr. 211, wurde noch um einen Textilhandel erweitert. Die Grünbergs und Weinbergs in Weener waren angesehene Leute. Im Visitationsbericht des Landesrabbiners von Emden an die Re-
gierung in Aurich vom 9.7.1927 steht zu lesen, daß sowohl Bernhard Weinberg als auch sein Schwager Aron Grün- berg Mitglieder des Repräsentantenkollegiums der Synagogengemeinde Weener waren.
Gegen Ende der zwanziger Jahre hielten es die Grünberg-Söhne für vorteilhafter, die Firma zu splitten und mit dem erworbenen Anteil in Zukunft eigenverantwortlich Geschäfte zu tätigen. Die Firma "A. Grünberg
Söhne" wurde 1929 aufgelöst. Philipp Grünberg kaufte in Leer das Haus Reimerstraße 6 neben der Bahn. Wilhelm Grünberg eröffnete am 1.4.1927 ein eigenes Viehhandelsgeschäft in seinem Haus in der Bremer Straße 14a.
Hermann Grünberg erhielt das Anwesen in Westrhauderfehn am Untenende überschrieben, wo seine Schwester Flora und sein Schwager Alfred Weinberg ihr Geschäft betrieben. Er selbst siedelte mit seiner Familie nach Leer
über, in die Bremer Straße 13, und eröffnete dort am 15.1.1933 einen Viehhandel. Aron Grünberg zog mit seiner Familie auch von Weener weg. Max Grünberg und Bernhard Weinberg blieben im Stammhaus in Weener, handelten
aber offensichtlich jeweils auf eigene Rechnung, denn am 11. Oktober 1927 wurde zwischen Bernhard Weinberg und seiner Ehefrau Rahel eine notarielle Gütertrennung vereinbart. Mit Beginn der NS-Zeit 1933 war es mit der heilen Welt bald vorbei. Die Geschäfte gingen nach und nach immer schlechter. Im Jahre 1935 wurde der Betrieb in Weener in der
Kommerzienrat-Hesse-Straße in einer Hetzbeilage der Ostfriesischen Tageszeitung noch als jüdisches Geschäft aufgeführt, und sowohl Max Grünberg als auch Bernhard Weinberg wurden als jüdische Viehhändler bezeichnet, was
den Schluß zuläßt, daß sie um diese Zeit hauptsächlich Viehhandel betrieben. Tochter Lilly muß als junge Frau in Frankfurt gewohnt
haben, denn dort wurde am 5.10.1935 ihre Tochter Anne- marie Rosel geboren. Während der folgenden Jahre kehrte sie jedoch nach Weener in ihr Elternhaus zurück. Nun wohnten im Hause Weinberg/Grünberg in der
Kommerzienrat-Hesse-Straße Urahne, Großmutter, Mutter und Kind unter einem Dach vereint. Doch die Idylle trog. Am 3.2.1937 verstarb Schwiegermutter Frauke Grünberg geborene Cohen in Weener. Das neue Gesetz der NS-Regierung vom 6. Juli 1938 zur Änderung der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich entzog vielen jüdischen Firmen die Betriebserlaubnis. Für die Viehhändler bedeutete das
Einziehen der Wandergewer- bescheine und Legitimationskarten eine schwerwiegende Behinderung in ihrer Berufsausübung. Sie durften nur noch in ihrem Wohnort, dem Ort ihrer Zulassung, mit Vieh handeln. Die Firma von Max
Grünberg und Bernhard Weinberg konnte von nun an kein Stück Vieh mehr von den Bauern kaufen, denn die wohnten in den umliegenden Dörfern und nicht in Weener. Außerdem durften sie den Viehmarkt in Leer jetzt nicht mehr
beliefern. Die Firma mußte aufgegeben werden, und das Haus wurde "arisiert". Max Grünberg zog Anfang November 1938 nach Bremen-Blumenthal. Die Familie Weinberg blieb zunächst
noch in Weener und wohnte Am Hafen 26. Bernhard Weinberg betrieb heim- lich einen Hausierhandel mit Kurzwaren und Kleintextilien, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern. Er suchte Bekannte auf und verkaufte
ihnen ab und zu einige Kleinigkeiten, unter anderem auch seine frühere Nachbarin aus Westrhauderfehn, Grete Janssen geborene Brunsema.
Als 1940 alle Juden auf Anordnung der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven Ostfriesland verlassen mußten, zog Bern- hard Weinberg mit Frau Rahel und Tochter Lilly sowie Enkelin Rosel ebenfalls nach Bremen-Blumenthal in die
Wil- helmstraße 9. Außer Frau Rahels Bruder Max wohnten in Bremen noch etliche entfernte Verwandte aus der weitver- zweigten Grünberg-Familie.
Wie die Weinbergs in Bremen ihren Lebensunterhalt verdient haben, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Es ist gut möglich, daß Bernhard Grünberg und auch Tochter Lilly zu einer Arbeit abkommandiert
wurden. Es wurde für die Juden ohnehin Tag für Tag mühseliger, den Alltag zu meistern, da sie seit Ende des Jahres 1938 durch immer neue Verordnungen mehr und mehr von der Normalität des Alltags ausgeschlossen wurden.
Das Tragen des gelben Sterns in der Öffentlichkeit ab dem 15. September 1941 bedeutete eine weitere Ausgrenzung und Stigmatisierung. Am 24. Oktober 1941 ordnete der Chef der Ordnungspolizei im
Reichssicherheitshauptamt, Daluege, in einem Schnellbrief an, daß "vom 1. November bis zum 4. Dezember 1941 ... aus dem Altreich, der Ostmark und dem Protektorat Böhmen und Mähren 50 000 Juden nach dem Osten in die
Gegend um Riga und Minsk abgeschoben" werden sollten, und zwar in Transportzügen zu je 1000 Personen; als Ausgangsorte wurden u.a. auch Hamburg, Bremen und Düsseldorf genannt. Die 440
Bremer Juden mußten sich am 18. November 1941 zwischen sechs und sieben Uhr morgens an vorgege- benen Stellen sammeln und wurden dann von Uniformierten zum Lloydbahnhof gebracht. Sie durften nur pro Person einen Koffer
mit 50 kg Bekleidung, Bettwäsche oder Schuhe und für vier Tage Proviant mitnehmen. Die Wohnung mußte in einem ordnungsgemäßen Zustand hinterlassen und der Schlüssel bei der Polizei abgeliefert werden. Während sie auf
den Transportzug aus Hamburg warteten, mußten sie eine Erklärung unterschreiben, daß sie Feinde der Deut- schen Regierung und deshalb ab November 1941 staatenlos seien und somit kein Anrecht mehr auf ihr zurückgelas-
senes Eigentum hätten. Unter diesen Bremer Juden am Lloydbahnhof befanden sich laut der Transportlisten der Jüdischen
Kultusgemeinde Bremen auch die Mitglieder der Familie Weinberg aus der Wilhelmstraße 9 in Blumenthal: Herr Baruch/Bernhard, Frau Rahel, Tochter Caroline Lilly und Enkelkind Annemarie/Rosel. Max Grünberg war zu dieser
Zeit schon nicht mehr am Leben. Das Transportziel Minsk war ihnen nur gerüchteweise bekannt. Sie rechneten damit, irgendwo in den
besetzten russischen Gebieten in einem Arbeitslager angesiedelt zu werden. Nathan Felczer, dessen Tochter in Bremen bleiben konnte, weil sie in einer Mischehe verheiratet war, hatte frankierte Postkarten mitgenommen,
von denen drei sogar ordnungsgemäß in Bremen ankamen, so daß die Reiseroute über Krenz, Warschau und Baronowitschi - etwa 150 km vor Minsk - nachvollzogen werden kann. In Minsk wurde der
Transport von der SS mit Peitschen-und Gewehrkolbenhieben sowie wüsten Beschimpfungen empfangen und dann in das mit etwa 100 000 Juden aus der Sowjetunion völlig überfüllte Ghetto getrieben. Kurz bevor die ersten
Transporte ankamen, hatte man dort mit Stacheldraht einen Teil abgetrennt und so für die deutschen Juden eine Art Sonderghetto geschaffen. Die hier zuvor wohnenden etwa 7000 Menschen waren in der ersten Novem- berwoche
einfach erschossen worden. Da viele der Toten noch in den Wohnungen lagen, mußten die Ankömmlinge aus Bremen und Hamburg die erste Nacht und den nächsten Tag draußen verbringen bei 25° Kälte,
während einige von ihnen abkommandiert wurden, die Leichen wegzubringen und die Wohnungen zu säubern. Das berichtete Richard Frank, einer der wenigen überlebenden Bremer nach der NS-Zeit. Ebenfalls ins Ghetto Minsk deportiert wurden die Familien von Frau Rahels Brüdern Philipp und Wilhelm Grünberg, die seit der Vertreibung der Juden aus
Ostfriesland im Frühjahr 1940 in Essen wohnten. Sie mußten am 10. November 1941 in Düsseldorf den Transportzug besteigen. Ob die Geschwister sich noch vor der Deportation benachrichtigen konnten oder ob sie sich im
Ghetto Minsk später getroffen haben, wissen wir nicht. Obwohl den einzelnen Transporten nach Herkunftsorten abgegrenzte Wohngebiete im Sonderghetto zugewiesen wurden, waren diese nicht durch Stachel- draht voneinander
getrennt, so daß Kontakte möglich waren. Es war für die Weinbergs und Grünbergs sicherlich tröst- lich, in einer so schweren Zeit mit den Verwandten gewissermaßen ein kleines Stückchen Heimat bei sich zu haben. Im Ghetto gab es weder Elektrizität noch Heizmaterial. Und das in dem besonders kalten Winter 1941/42! Wasser konnte nur aus wenigen Brunnen
geholt werden und zu essen gab es außer einer dünnen Suppe kaum etwas. Tagsüber wurden die Frauen und Männer im arbeitsfähigen Alter zu schwerer körperlicher Arbeit abkommandiert. Infolge
dieser katastrophalen Umstände starben schon viele Menschen während der ersten Wochen. Wer bis zum Frühjahr überlebt hatte, fiel später einer der vielen Liquidierungsaktionen zum Opfer. Die Bewohner ganzer Straßen- züge
wurden dann zusammengetrieben und am Rande großer Massengräber erschossen oder in Spezialfahrzeugen vergast, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Insgesamt sind im Ghetto Minsk etwa 135 000 Menschen umge- bracht worden. Eine der größten Massenmordaktionen im Ghetto Minsk fand am 28. und 29. Juli 1942 statt. Dabei mußten über 10.000 Menschen ihr Leben lassen, auch viele Bremer Juden. Unter den Opfern war laut
Auskunft des Bundesarchivs Koblenz auch Rahel Weinberg geb. Grünberg. Wann genau Ihr Ehemann Bernhard Weinberg, ihre Tochter Lilly und ihre Enkeltochter Rosel umgekommen sind, kann niemand sagen. Fest steht jedenfalls,
daß von den 440 Bremer Juden, die am 18.11.1941 ins Ghetto Minsk deportiert wurden, nur sechs überlebt haben. Familie Alfred Weinberg
Nach ihrer Heirat 1920 konnten Alfred Weinberg und Frau Flora in Westrhauderfehn die Geschäftsverbindungen übernehmen, die ihre Geschwister seit 1910 geknüpft hatten. Hatte Bernhard Weinberg das Geschäft
noch mit den ledigen Grünberg-Brüdern Philipp und Wilhelm gemeinsam aufgebaut und betrieben, wie aus dem Adreßbuch von 1910 und aus der Mitteilung auf einer Postkarte von Viehhändler Julius Frank aus Leer an Frau Poppen
in Ostrhau- derfehn von 1912 zu ersehen ist, so geht aus dem Adreßbuch von 1926 klar hervor, daß Alfred Weinberg das Ge- schäft jetzt allein führte, was nicht bedeutete, daß er nicht mit seinen Grünberg-Schwagern aus
Leer eng zusammen- arbeitete. Diese nannten damals schon einen großen Viehtransporter mit Außenschaltung ihr eigen. Damit holten sie ab und zu Großvieh bei Alfred Weinberg ab; daran erinnert sich jedenfalls Kapitän
Hermann Buß, der bis 1927 in dem Harmschen Haus nebenan wohnte. Laut Schmiedemeister Brunsema, der ein gutnachbarschaftliches Verhältnis
zu Alfred Weinberg hatte, wurde der nach einiger Zeit ziemlich wohlhabend. Trotzdem war er sich nicht zu schade, auch kleine Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen, und wenn es der Kater der Familie Reents aus
Ostrhauderfehn war, den er unentgeltlich mitnehmen konnte. Um bei seinen oft einfachen Geschäftspartnern keine übertriebenen finanziellen Begehrlichkeiten zu wecken, stellte er seinen bescheidenen Reichtum nicht zur
Schau, sondern fuhr mit einem alten Fahrrad zu seiner Kundschaft. Bei den Weinbergs stellte sich bald Kindersegen ein: Am 23.8.1922 wurde Diedrich geboren - Dieter gerufen -, am 14.11.1923
Frieda - Friedel genannt - und am 7.3.1925 Albrecht - von seinen Spielkameraden später auch Alwin gerufen. Frau Flora beschäftigte ein Kindermädchen, Anni Lüdemann aus Leer, bis zum Sommer
1923, und bereits im Januar 1923 zog eine junge Verwandte ihres Mannes, Johanna Weinberg (* 13.2.1899 in Ennigloh), zu ihnen nach Westrhau- derfehn. Sie meldete sich als Pensionärin auf dem Einwohnermeldeamt an und
blieb bis zum 25.9.1924, als sie sich nach Ahle bei Herford verabschiedete. Ansonsten gehörte laut Auskunft der ehemaligen Nachbarin Agathe Helling geb. Brunsema noch eine Eggeline Meyer aus Rhaudermoor zu den
Haushaltshilfen. Sie soll auch die Rolle des "Sabbatgois" wahrgenommen haben. Neben dem Vieh-, Fell- und
Schrotthandel betrieben die Weinbergs, wie alle Viehhändler damals, auch eine kleine Landwirtschaft. Dini Schustereit geb. Saadhoff aus der Nachbarschaft erinnert sich, daß sie früher bei Weinbergs Milch holte wie
sicherlich auch noch andere Nachbarn. Agathe Helling hat noch heute die vielen Hühner und die von Eiern überquellenden Nester vor Augen. Alfred Weinberg bekam bei seinen Geschäften oft ein Huhn "up Koop toe".
Die drei Weinberg-Kinder besuchten alle die heutige Sundermannschule am Untenende, und Dieter wurde nach der Grundschulzeit in die
Mittelschule Westrhauderfehn aufgenommen (heute: Kreisrealschule Overledingerland). Sie waren Untenendjer Kinder wie andere auch, und wie alle echten Fehntjer Jungen brach Albrecht eines Tages auf dem zugefrorenen Kanal
ins Eis ein und mußte herausgezogen werden. Daran erinnert sich noch Johannes Lücht aus der Nachbarschaft. Die Weinbergs sprachen plattdeutsch wie die meisten Leute damals und unterschieden sich nur in ihrer Religion
von den übrigen Fehntjern. Anläßlich hoher jüdischer Feiertage und manchmal auch zum Sabbat fuhren die Weinbergs mit der Eisenbahn über Jhrhove nach Weener zu ihren Verwandten. Dort besuchten
sie auch die Synagoge. Die Nachbarn Brunsema ver- sorgten dann das Vieh und melkten die Kühe. Als Entgelt durften sie die Milch behalten. Der Besuch bei der Groß- mutter Frauke Grünberg geb. Cohen in der
Kommerzienrat-Hesse-Straße wurde für die heranwachsenden Weinberg- Kinder im Laufe der Jahre zur lieben Gewohnheit, und Weener wurde gleichsam zur zweiten Heimat. Friedel und Albrecht Weinberg erinnern sich auch heute
noch gern daran. Nach Hitlers "Machtergreifung" am 30.1.1933 gehörte diese Zeit des friedlichen Zusammenlebens bald der Ver- gangenheit an. Nicht nur in der großen Politik wurden neue
Akzente gesetzt, sondern auch hier auf dem Fehn wurde die Bevölkerung lautstark und mit hektischer Betriebsamkeit darauf aufmerksam gemacht, daß andere Zeiten ange- brochen waren. Im April
1933, während der Tage des Boykotts jüdischer Geschäfte, erschien der junge Bahns vom Hotel Frisia in SA-Uniform bei Weinbergs und forderte die Herausgabe der Schächtmesser, die Alfred Weinberg bisher zum koscheren
Schlachten für den Eigenbedarf benutzt hatte. Das Schächten wurde in Deutschland verboten, und wie in vielen anderen Städten wurden auch in Leer die Schächtmesser öffentlich verbrannt. Friedel und Albrecht mußten nun die jüdische Schule in Leer besuchen. Die bis dahin einklassig geführte Einrichtung war auf den plötzlichen Schüleransturm aus
allen Teilen des Landkreises gar nicht eingerichtet und bald hoffnungslos überfüllt. Obwohl die israelitischen Lehrer Popper und später Spier ihr Bestes versuchten, fehlte es an allen Ecken und Enden, denn die Stadt
Leer, die für die sächlichen Kosten der Schule aufzukommen hatte, reduzierte ab 1936 die finanziellen Zuwendungen von bisher 1.100 RM jährlich auf 400 RM. Das Lehrergehalt wurde allerdings wie bei anderen Schulen
vorerst weiter vom Staat bezahlt. Die Weinberg-Kinder konnten nun während der Woche nicht mehr bei ihren Eltern in Westrhauderfehn
wohnen, denn der Schulweg war zu weit, und bei einer täglichen Fahrt mit der Kleinbahn nach Leer hätten sie zu viele Pöbeleien der Mitreisenden über sich ergehen lassen müssen. Außerdem wäre es ihren Eltern schwer
gefallen, das Geld für die Fahrkarten aufzubringen, denn die Geschäfte gingen in diesen Jahren schon spürbar schlechter. Wie gut war es deshalb, daß sie Verwandte und gute Bekannte in Leer
hatten! Albrecht wohnte jetzt während der Woche bei seinem Onkel und seiner Tante, Willy Cohen und Maria geb. Grünberg, in der Bremer Straße 70. Dort konnte er mit seinem gleichaltrigen Cousin Alfred spielen. Sein
Vetter Dago und seine Cousinen Frieda und Resi waren zu der Zeit schon erwachsen. Friedel kam bei Bekannten unter, im Hause des Viehhändlers Albert Frank in der Bremer Straße 64, in der Nachbarschaft von ihrem Bruder
Albrecht. Obwohl ihre Gastfamilien es nicht an liebevoller Fürsorge fehlen ließen, hatten Albrecht und Friedel natürlich Heimweh nach Vater und Mutter und nach ihrem Zuhause auf dem Fehn. Gleich zu Beginn der NS-Zeit, im April 1933, gab es eine Aktion "Boykott der jüdischen Geschäfte". SA-Leute stell- ten sich ein paar Tage lang vor die
jüdischen Läden und wollten die Kunden vom Einkaufen abhalten, um den Juden auf diese Weise Verdienstausfälle zu bescheren. Auf diese Weise hoffte man, die Juden auf lange Sicht zum Auswan- dern bewegen zu können, da
die Käufer ausblieben. Diese Hoffnung der NS-Regierung ging aber in der Branche des Viehhandels im nordwestdeutschen Raum so bald nicht in Erfüllung, denn ohne die jüdischen Viehhändler wäre die gesamte Infrastruktur
des Viehhandels zusammengebrochen, da die Juden in dieser Branche fast ein Monopol hatten. Obwohl der agrarpolitische Fachberater der NSDAP, W. Voß, schon am 5. April 1933 im Anschluß an den Viehmarkt in Leer im
Centralhotel einen nationalsozialistischen Viehhändlerverband gründete, zu dem Juden selbstver- ständlich keinen Zutritt hatten, setzten die meisten Bauern einstweilen ihre Geschäfte mit den Juden fort, zumal ihnen
deren Geschäftsusancen besser gefielen als die Praktiken vieler nichtjüdischer Händler. Das änderte sich erst 1935, als die Juden durch
die "Nürnberger Gesetze" zu Menschen minderen Rechts gemacht wurden. Es war zwar noch nicht verboten, mit Juden Geschäfte zu machen, aber zwei Jahre antijüdische Hetze übelster Sorte und zwei Jahre
"Gleichschaltung" aller Medien und gesellschaftlicher Gruppen mit entsprechender Einschüchte- rung der Abweichler wirkten sich nach und nach sehr negativ auf die Geschäfte der Juden aus. Auch gutwillige Leute
scheuten sich davor, im "Stürmerkasten" als Judenknechte angeprangert zu werden und sahen sich nach Alternativen um. Und die gab es mittlerweile auch im Viehhandel, denn die NS-Regierung hatte das Bezugs- und
Absatzgenossen- schaftswesen im ländlichen Raum in der Zwischenzeit stetig ausgebaut. Auch beim Vieh-, Fell- und
Schrotthändler Alfred Weinberg in Westrhauderfehn liefen die Geschäfte nicht mehr richtig. Es wurde kaum noch etwas verdient. Johann Korrelvink aus Ostrhauderfehn, der 1936 bei der Firma Wilhelm Olligs im
Westrhauderfehner Untenende eine kaufmännische Lehre begann, erinnert sich, daß Dieter Weinberg dort damals ab und an nur noch 50 Pfund Kohlen für den häuslichen Bedarf einkaufte und sie mit dem Eimer zu seinen Eltern
nach Hause trug. Am 20. Juli 1935 machte die Ostfriesische Tageszeitung in einer Hetzbeilage die Leser noch einmal ausdrücklich darauf aufmerksam, daß das Produkten- und Viehgeschäft von A. Weinberg in Westrhauderfehn
ein jüdisches Geschäft sei. Im Januar 1936 sahen sich die Grünbergs und Weinbergs gezwungen, ihr Haus mit Grund- stück in Westrhauderfehn an den Schiffsmakler und Werftbetreiber Harm Schaa von der Witten Hülle am
Hauptfehn- kanal weit unter Preis zu verkaufen. Ein Teil des Kaufpreises wurde als Hypothek eingetragen und sollte erst 1941 mit 5% Zinsen an die drei Schwager von Hermann Grünberg ausgezahlt werden.
Da Friedel und Albrecht in Leer die Schule besuchten, guckten sich Flora und Alfred Weinberg dort nach einer Wohnung um. Sie scheinen nicht auf Anhieb eine
gefunden zu haben, denn offensichtlich haben sie nach dem Verkauf ihres Hauses am Untenende noch für eine Übergangszeit auf der Witten Hülle gewohnt. Bei ihrer Anmeldung in Leer am 22.8.1936 gaben sie jedenfalls als
Herkunftsort Rhaudermoor an und nicht Westrhauderfehn. Die Familie war letztendlich heilfroh, daß sie eine kleine gemeinsame Hinterwohnung im Hause des Viehhändlers Polak in der Bremer Straße 62 beziehen konnte. Obwohl
sie einen Teil ihrer Möbel im Kuhstall unterstellen mußten, weil in der Wohnung nicht genug Platz vorhanden war, freuten sich doch alle, wieder beisammen zu sein. Am 23. Juni 1937 kam dann auch Dieter von Emlichheim
wieder nach Hause. Um diese Zeit lebten die meisten jüdischen Familien nur noch von ihrer Substanz und hofften auf bessere Zeiten.
Etliche wagten auch im Ausland einen Neuanfang, vor allem in Holland, denn für Juden mit niederländischer Staatsangehörig- keit waren die Ausreisebedingungen 1936 noch vergleichsweise günstig. Es gab ein Abkommen
zwischen dem Reichs- wirtschaftsministerium und der niederländischen Regierung, daß diese Juden bis zu 40.000 RM zum Aufbau einer neuen Existenz transferieren konnten. Dieses Transferabkommen endete allerdings am 31.
März 1937. Juden mit deutschem Paß durften in der Regel nur ihre Möbel mitnehmen und bis zu 2.000 RM Bargeld, wenn es ihnen gelang, alle Unterlagen für die Auswanderung zu beschaffen. Auch wenn die Zentralstelle für
jüdische Auswanderer in Berlin bei der Koordination behilflich war, warteten viele Ausreisewillige vergeblich auf ein Einreisevisum, denn wie in den meisten europäischen Ländern neigte man auch in Holland mehr und mehr
dazu, sich gegen die ständig anschwellende Flut der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland abzuschotten. Da Weinbergs keine Möglichkeit
sahen, mit ihren geringen Mitteln in einem fremden Land eine neue Existenz auf- zubauen, und sie auch keine Verwandtschaft in Holland hatten, die sie in der Übergangszeit hätte unterstützen können, wie ein paar andere
hiesige jüdische Familien, blieben sie in Leer und hofften auf bessere Zeiten. In der Pogromnacht am 9. November 1938, der sogenannten "Kristallnacht", wurde auch den letzten Juden
mit einem Schlag klar, daß man auf eine Besserung der Verhältnisse in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr hoffen konnte. Überall in Deutschland und dem inzwischen angeschlossenen Österreich brannten in dieser
Nacht und am folgenden Tag die Synagogen, und zahlreiche Geschäfte und Wohnhäuser wurden geplündert und demoliert. Was als spontaner "Volkszorn" ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine gezielt vorbereitete
Aktion der NS-Regierung. Auch in Leer brannte unter Anleitung von Bürgermeister Drescher bald die große Synagoge an der Heisfelder Straße. Die jüdischen Familien wurden aus den Häusern geholt
und auf die Nesse zum Viehhof getrieben. Unter ihnen war auch die Familie Weinberg aus der Bremer Straße 62. Die vierzehnjährige
Friedel hatte ein paar Wochen zuvor, im August 1938, gerade ihre erste Arbeitsstelle als Dienstmädchen in einem jüdischen Geschäftshaus- halt in Emden angetreten. Sie wurde dort von den Ereignissen überrascht und war
heilfroh, daß ihre Mutter sie bald von dort wieder zu sich nach Leer holte. In den jüdischen Geschäften und Wohnhäusern machten sich
SA-und HJ-Horden zu schaffen und hinterließen in den meisten Fällen ein "Schlachtfeld". Auch bei den Grünbergs in der Reimerstraße und in der Bremer Straße erschienen SA-Leute und
konfiszierten alles, was irgendwie ein bißchen wertvoll aussah: silberne Bestecke, Silber- und Zinnbecher, Armbänder, eine Kaffeekanne, ein Radio, 900 RM in bar und zwei Sparbücher, die aber fast kein Guthaben mehr
aufwiesen. Die Frauen, die Kinder und die gebrechlichen alten Männer ließ man im Laufe des 10. November nach Hause gehen. Die übrigen 56 Männer wurden im Viehhof in den Schweinestall gesperrt
und am nächsten Tag, dem 11.11.1938, zusammen mit den Männern der übrigen jüdischen Gemeinden aus der Umgebung mit Lastwagen nach Oldenburg gebracht und von dort mit der Eisenbahn in das Konzentrationslager
Sachsenhausen transportiert. Unter ihnen waren auch Alfred und Bernhard Weinberg und ihre Grünberg-Schwagern. Die meisten ließ man in den nächsten Wochen und Monaten wieder frei, wenn sie sich verpflichteten, über ihre
Behandlung nichts weiterzuerzählen. Etliche ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer überlebten diese Zeit nicht. Die letzten Leeraner Juden kamen Ende Februar 1939 wieder nach Hause, unter ihnen auch Alfred
Weinberg. Die zurückgebliebenen Frauen und Kinder standen nun ziemlich mittellos da. Abgesehen von der Tatsache, daß sie auf eigene
Rechnung dafür zu sorgen hatten, die Spuren der Plünderungen und Zerstörungen zu beseitigen, wurde allen Juden eine "Schuld" von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, angeblich für die Unkosten, die durch den
organisierten "Volkszorn" entstanden waren. Aus diesem Grunde wurden im Laufe der nächsten Wochen die restlichen jüdischen Häuser "zwangsarisiert", auch die Häuser der Grünberg-Brüder in Leer und
Weener. Den Verkaufserlös erhielt der Fiskus. Damit die Frauen und Kinder nun nicht verhungerten, zweigte man auf Anordnung des Bürgermeisters Drescher vom 22.11.1938 von dem beschlagnahmten Geld 500 RM ab und zahlte
ihnen davon hin und wieder kleine Unterstützungsbeträge von fünf oder zehn Reichsmark aus. Auch die Weinbergs und Grünbergs erhielten im November je zweimal zehn bzw. fünf Reichsmark. Mehreren jüdischen Familien wurde nach der "Zwangsarisierung" ihrer Häuser von den neuen Besitzern bald ihre Wohnung gekündigt, denn für Juden in
"arischen" Häusern gab es laut des Gesetzes über "Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939 keinen Kündigungsschutz mehr. Sie konnten nur noch in ganz wenigen Häusern, sogenannten
"Judenhäusern", unterkommen, die die Stadt zu diesem Zweck einstweilen noch in jüdischem Besitz belassen hatte. Hier herrschte bald drangvolle Enge. Auch waren die Kommunen und Landkreise gehalten, einmal
monatlich Listen an die Bezirksregierung zu schicken mit allen Um-, Ab- und Anmeldungen der noch verbliebenen Juden. Im Sommer 1939
mußte auch die jüdische Schule in Leer ihre Pforten endgültig schließen, denn der NS-Staat wollte nicht mehr für die laufenden Kosten aufkommen und auch den Lehrer nicht mehr bezahlen. Laut Verordnung vom 4. Juli 1939
war dafür jetzt die Reichsvereinigung der Juden zuständig. Die Mitgliedschaft in dieser Reichsvereinigung, die eine zwangsweise Zusammenfassung aller jüdischen Gemeinden darstellte, war für alle Juden und ehemalige
Juden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen obligatorisch. Die jüdische Gemeinde in Leer und ihre Mitglieder hatten nach den Ereignissen der "Kristallnacht" für den Unterhalt ihrer Schule jedoch keine Mittel
mehr. Der letzte jüdische Lehrer, Seligmann Hirschberg, mußte mit seiner Familie die Dienstwohnung verlassen und sich nach einer anderen Verdienst- möglichkeit umsehen. Das Schulgebäude ging in den Besitz der Stadt Leer
über. Für den Sabbat-Gottesdienst, den man nach der Zerstörung der Synagoge in der Schule gefeiert hatte, wurde in dem ehemaligen koscheren Restaurant in der Kampstraße ein bescheidener Ersatz hergerichtet. Zu dem alltäglichen Kampf der jüdischen Eltern um Lebensunterhalt und Unterkunft, sowie zu der Angst vor gewalt- tätigen Übergriffen der
NS-Organisationen, gesellten sich nun auch noch die Sorgen um die Zukunft der Kinder. Für sie wurde der Alltag in Leer immer unerträglicher. Sie konnten nicht mehr zur Schule gehen, und in den viel zu kleinen Wohnungen
gab es keinen Platz zum Spielen. Sie durften nicht mehr in den Julianenpark und in den Inselgarten auf der Nesse oder auf den Plytenberg. Sie konnten weder auf den Sportplatz, noch in die Badeanstalt an der Georgstraße,
noch auf den Spielplatz oder in den Zoo bei "Onkel Heini" in Logabirum. Auch im Kino oder auf dem Gallimarkt durften sie sich nicht mehr sehen lassen. Überall standen Schilder "KEIN ZUTRITT FÜR
JUDEN", und auch in fast allen Geschäften waren Juden unerwünscht. Viele Kinder und Jugendliche trauten sich kaum noch auf die Straße. Um dem trostlosen Leeraner Alltag zu entgehen und um wenigstens irgendeine Art Ausbildung zu absolvieren, bemüh- ten sich die meisten
Jugendlichen um einen Platz in einer Ausbildungsstätte des Chalutz- Verbandes. Diese internatio- nale Organisation unterhielt europaweit Einrichtungen, die junge Leute auf ein Leben in Palästina vorbereiteten. Die
Jugendlichen wurden dort in handwerklichen Fertigkeiten, in der Landwirtschaft, im Gartenbau und in mehreren Sprachen ausgebildet. Eine solche Gartenbauschule gab es z.B. in Ahlem bei Hannover. Dorthin ging Dieter
Weinberg am 14. Dezember 1938, nachdem er um die Jahreswende 1937/38 schon ein paar Wochen lang vergeblich versucht hatte, in Berlin Fuß zu fassen.
Durch die Unterstützung des Reichsbundes der Jüdischen Frontsoldaten, dem Alfred Weinberg als Weltkriegsteil- nehmer angehörte, gelang es Friedel und Albrecht, am 29. April 1939 in das Jugendlager Groß
Breesen bei Guben an der Oder aufgenommen zu werden. Die Ausbildungsstätte war in einem ehemaligen Gutshof mit wunderschöner Um- gebung untergebracht. Vierzehn- bis achtzehnjährige Jugendliche wurden dort in der
Landwirtschaft ausgebildet. Da Friedel und Albrecht hier unter lauter jüdischen jungen Leuten waren, fühlten sie sich nach langer Zeit endlich wieder frei und unbeschwert. Einige Freundschaften, die sie damals dort
geschlossen haben, bestehen heute noch. Im Februar 1940, als alle Juden Ostfriesland verlassen mußten, kam auch ihr Cousin August Grünberg aus der Bremer Straße 14a noch dorthin. Alfred und
Flora Weinberg mußten im Sommer 1939 die Wohnung in der Bremer Straße 62 bei Polaks aufgeben und wechselten am 6. Juli in die Reimerstraße 6 zu ihren Verwandten Philipp und Angelica Grünberg. Doch nach Be- ginn des
II.Weltkrieges am 1. September 1939 gab es für die noch in Leer verbliebenen Juden bald eine neue Hiobs- botschaft: Im Januar 1940 beschloß die Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven, die für das hiesige Gebiet zuständig
war, Ostfriesland als "Grenzgebiet zum Feindesland" von potentiellen Spionen zu säubern. Da Juden per se als Feinde des deutschen Volkes galten, beauftragte man den Auricher Synagogenvorsteher Wolffs, bzw.
dessen Sohn, dafür Sorge zu tragen, daß alle Juden Ostfrieslands sich bis zum 1. April 1940 einen neuen Wohnsitz außerhalb Ostfrieslands suchten. Wer keine neue Bleibe fand, mußte sich den organisierten Transporten nach
Berlin anschließen. Mit einem dieser Transporte verließen auch Alfred und Flora Weinberg die Reimerstraße in Leer am 16.2.1940 in
Richtung Berlin. Sie durften nur wenig Gepäck mitnehmen und wurden in Alt-Moabit, Charlottenburg, in einem sogenannten "Judenhaus"in der Kirchstraße 22 untergebracht. Jede Familie hatte dort nur ein Zimmer zur
Verfügung. Hatten die Weinbergs in Leer oder Weener während der mageren letzten Jahre immer noch ein paar nichtjüdische Bekannte gehabt, von denen sie ein wenig Unterstützung erhoffen konnten, so war ihnen hier in
Berlin alles fremd. Alfred Weinberg wurde bald zur Arbeit in einer Fabrik eingeteilt. Zum Glück gab es dort auch ein paar nette Kollegen, die auf ihn Rücksicht nahmen, denn die ungewohnte Arbeit ging ihm in seinem Alter
nicht mehr leicht von der Hand. Im Februar 1941 wurde das Jugendlager in Groß Breesen aufgelöst. Es hatte seit Beginn des Krieges
zwar schon unter der offiziellen Leitung der Gestapo gestanden, aber die interne Organisation war noch in jüdischer Hand geblie- ben. Friedel und Albrecht Weinberg wurden jetzt mit ihren jugendlichen Kolleginnen und
Kollegen in ein Zwangsar- beitslager für Juden nach Wulkow gebracht. Dieses Lager unterstand dem Reichssicherheitshauptamt und lag in Bran- denburg in der Nähe von Neuruppin in einem Wald. Sie wurden in Baracken
untergebracht und bekamen nur wenig zu essen. Sie mußten zwölf Stunden am Tag Grubenholz schneiden. Manchmal wurden sie auch abkommandiert, um Kohlen oder Briketts auszuladen oder um an Wochenenden irgendwelchen
Nazibonzen aus Berlin bei der Treibjagd behilflich zu sein. Da Wulkow nicht allzuweit von Berlin entfernt lag, verließen Friedel und Albrecht ab und an heimlich das Lager und fuhren mit der
Eisenbahn nach Berlin zu ihren Eltern. Das war natürlich streng verboten, aber die beiden sagen heute: "Wir hatten ja nichts mehr zu verlieren." Trotzdem gaben sie sich unterwegs alle Mühe, nicht aufzufallen.
Ihren gelben Stern, den sie seit 1941 tragen mußten, verbargen sie, indem sie die Jacken umdrehten. Dieter muß um die Zeit auch in einem Arbeitslager gewesen sein, denn auch er hat, wie seine
Geschwister berichten, 1942 seine Eltern in Berlin noch besucht. Schon seit Oktober 1941 wurden von Berlin Juden
deportiert: Zuerst in das Ghetto nach Lodz, ab 1942, nach der Wannsee-Konferenz, nach Riga, Minsk und Kowno. Auch nach Theresienstadt und Auschwitz gab es im Laufe des Jahres von Berlin aus etliche Transporte. Die
großen Massendeportationen von Berlin nach Auschwitz setzten im Februar 1943 ein. In einem dieser Güterwaggons saß auch Dieter Weinberg.
Alfred und Flora Weinberg wurden am 17. März 1943 nach Theresienstadt deportiert, denn Alfred Weinberg war als Soldat im I.Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, so daß das Ehepaar in das Lager für
Privi- legierte verbracht wurde. Doch auch von dort gingen ab und zu Transporte nach Auschwitz, wenn das Lager in There- sienstadt zu voll wurde. Wo und wann genau ihre Eltern umgekommen sind, wissen Friedel und
Albrecht bis heute nicht. Im Jahre 1944 erhielt Friedel in Auschwitz ein einziges Mal eine Karte von ihrer Mutter aus Theresienstadt, seitdem haben sie nichts mehr von ihren Eltern gehört. Im
März 1943 wurden in und um Berlin alle Juden aus den kleinen Arbeitslagern herausgeholt und nach Berlin ver- frachtet. Friedel und Albrecht wurden dort in die Hamburger Straße verbracht und von da aus am 19./20. April
1943 mit einem Möbelwagen zur Bahn gefahren, die sie nach Auschwitz transportierte. Da Friedel und Albrecht Weinberg für arbeitstauglich gehalten wurden, entgingen sie glücklicherweise bei der
"Selek- tion" an der "Rampe" in Birkenau den Gaskammern und wurden dort einem Lager zugewiesen wie zuvor schon ihr Bruder Dieter. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren unmenschlich und der Tod war
allgegenwärtig. Während der ganzen Zeit in Auschwitz hatten die drei Geschwister keinen Kontakt, so daß keiner von ihnen wußte, ob die anderen noch am Leben waren. Im Herbst 1944 wurde Albrecht
Weinberg mit vielen anderen in das KZ Dora-Mittelbau bei Nordhausen in Thü- ringen verlegt, dort war in einem Stollensystem u.a. die Produktion für die V-2-Raketen angelaufen. Die Behandlung war hier besonders brutal.
Am 1. April 1945 begann die SS mit der Räumung des Lagers; nach einem "Todesmarsch", bei dem unterwegs noch Tausende ermordet wurde und umkamen, erreichte Albrecht dann mit seinen Leidensgenos- sen das KZ
Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide. Dort war das Elend noch nicht zu Ende, denn infolge der Überfüllung gab es weder Unterkünfte,
noch Nahrungsmittel, noch Trinkwasser für die Neuankömmlinge. Tausende starben an Typhus, der seit Januar im Lager grassierte. Tröstlich war für Albrecht, daß er hier seine Geschwister Dieter und Friedel wiedertraf. Sie
waren auf einem "Todesmarsch" von Auschwitz nach hier gelangt. Am 15. April 1945 wurde Bergen-Belsen endlich von den Engländern befreit.
Nach Kriegsende kehrten Dieter, Friedel und Albrecht Weinberg nach Leer zurück. Sie erhielten eine Wohnung in der Brunnenstraße 11 zugeteilt. Nach und nach erfuhren sie, daß nicht nur ihre Eltern den
Holocaust nicht überlebt hatten, sondern daß auch alle ihre Onkel und Tanten umgekommen waren. Nur einige Cousins und Cousinen waren noch am Leben. Sie standen jetzt praktisch vor dem Nichts wie so viele in dem
desolaten Nachkriegsdeutschland. Da jeder mit seinem eigenen täglichen Überlebenskampf beschäftigt war, konnten sie auch nirgends Unterstützung erwar- ten. Mit ihrem angeheirateten Vetter, dem
Arzt Dr. Philipp Mayring aus Collinghorst, der mit Cousine Rosa Löwenstein aus Weener verehelicht war, besuchten Dieter und Albrecht noch einmal ihre alten Nachbarn Brunsema in Westrhau- derfehn. Auch mußte der jetztige
Besitzer ihres früheren Hauses am Untenende, Harm Schaa, den Rest der Kaufsum- me und die aufgelaufenen Zinsen noch bezahlen. Jedoch konnte man in den Zeiten des Tauschhandels und der "Zigaret- tenwährung" mit
Bargeld nur wenig anfangen. Am 13. Oktober 1946 traf die Geschwister ein neuer Schicksalsschlag: Dieter Weinberg verunglückte tödlich im Breinermoorer Hammrich. Um seinen Tod ranken sich
etliche Gerüchte. Laut Johannes Röskamp erlag er einem Herzschlag; Johann Korrelvink berichtet, daß er beim Angeln in das Sieltief gefallen und ertrunken sei. Beerdigt wurde Dieter Weinberg auf dem jüdischen Friedhof in
Leer am Schleusenweg (Grab Nr. 227). Auf seinem Grabstein ist vermerkt, daß er ein Holocaust Survivor war. Nach Dieters
Tod hielt Friedel und Albrecht Weinberg nichts mehr in Leer. Sie beschlossen, möglichst weit weg von Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Sie wanderten nach New York aus, wo sie noch heute wohnen, in der Gemeinde
von Rabbi Gans, der auch aus Leer stammt. Die meisten ihrer überlebenden Cousins und Cousinen ließen sich in Holland nieder, ein paar auch in den USA, und Vetter Arthur Grünberg aus der Reimerstraße wohnt heute in
Australien. Schon in den frühen fünfziger Jahren weilten Friedel und Albrecht Weinberg ab und an bei ihren Verwandten in Hol- land. Nach
Leer kamen sie 1985 und 1995 anläßlich der Einladung der überlebenden ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt. Bei diesen Gelegenheiten besuchten sie auch kurz Westrhauderfehn. Im Jahre 1996
endlich kamen sie auf Einladung der Gemeinde Rhauderfehn für eine Woche nach Westrhauderfehn. Sie wohnten während der Zeit in Leer. Albrecht und Friedel Weinberg legten Wert darauf, mit der Jugend ins Ge- spräch zu
kommen. Sie diskutierten mit Realschülern in der Kreisrealschule Overledingerland und mit Jugendlichen vom Arbeitskreis Schule in Burlage. Sie beantworteten Fragen auf einer großen öffentlichen Informationsveranstaltung
im Rathaus Rhauderfehn und folgten einigen Spuren ihrer Kindheit. So nahmen sie unter anderem an einer Einschu- lungsfeier in der Sundermannschule teil. Zwei Jahre später kamen Friedel und
Albrecht Weinberg erneut aus New York angereist, um am 3. September 1998 im Beisein der Oldenburger Rabbinerin Lea Wyler und zahlreicher lokaler Prominenz in Westrhauderfehn auf dem Ehrenfriedhof an der 1. Südwieke
einen Gedenkstein für die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft zu enthüllen. So gibt es zwischen den letzten beiden Fehntjer Juden und ihrem früheren Heimatort, der sie 1936 loswerden wollte, doch wieder
versöhnliche Gesten. |